Montag, 27. Februar 2023

Etikette, Contenance und Anstand

Als ich mich 2014 umzugsbedingt überwiegend ins Home Office begab, jauchzte die Seele: Endlich wieder sowas wie ein pünktlicher Feierabend. Man schiebt Stift und Block zur Seite, knipst den Laptop aus und ist in Sekundenbruchteilen im Feierabend. Was im realen Leben oft bedeutete, anschließend in ein paar Sandalen zu schlüpfen, die Korbtasche galant auf der Schulter und die Sonnenbrille auf der Nase zu balancieren und im naheliegenden kleinen, aber feinen Cafe einen Milchkaffee zu ordern, ein Buch aufzuschlagen und dort zu warten, bis der Mann aus dem Büro heimkehrte. 

Was mir insbesondere in M auffiel: Menschen schauen der Bedienung erschreckend selten in deren Gesicht. Gern auch gepaart mit dieser Kombi: "Ich bekomm dann einen Milchkaffee und das Croissant."
Noch schlimmer (finde ich): "Milchkaffee und Croissant."
Was ist mit Bitte und Danke? Was ist mit vollständigen Sätzen? Und was ist mit "Schau mich an, wenn du mit mir sprichst?"

"Sie mag es immer noch, in Cafes zu sitzen und durch das Fenster den Blick nach draußen auf die Menschen zu führen. Manchmal ist sie nicht sicher, ob die dabei in ihr ausgelösten Empfindungen misanthropische Züge angenommen hatten oder sie einfach nur genervt ist vom Umgang der Menschen miteinander.
„Guten Tag“ oder „Auf Wiedersehen“, ein „Bitte“ oder „Danke“ gehören für sie ebenso zum Elementaren wie Essen, Trinken, Schlafen oder Sex.
Wenn sie sich einen Kaffee bestellt, dann sagt sie nicht: „Einen Espresso, bitte“, während sie den Blick nicht von ihrem Handy löst und intensiv weitertippt. Wenn sie sich einen Kaffee bestellt, schaut sie der Bedienung in das Gesicht, lächelt freundlich und sagt: „Ich möchte einen Espresso, bitte.“ So viel Zeit muss sein, und so viel Respekt dem anderen Menschen gegenüber, der dir den Weg und die Aufwendung abnimmt, dich selber um deinen Espresso zu kümmern.
Als Kind wird einem beigebracht, in ganzen Sätzen zu sprechen, und sie missbilligt den Hang der heutigen Zeit, Sätze auf das größtmögliche Minimum zu reduzieren und auf diese Weise nicht nur zu zerhackstücken, sondern auch jegliche Umgangsformen vermissen zu lassen. Sie liebt ihre Sprache und sie empfindet es als ausgesprochen schade, wie sehr ihre Sprache versinkt in einem Mix aus Deutsch und Englisch, so dass sie mitunter nicht mal mehr weiß, wie das eigentliche Wort auf Deutsch lautet oder das deutsche Wort fremd und falsch in ihren Ohren klingt."

Ich habe mich auch deshalb daran gewöhnt, von zu Hause aus arbeiten zu können. Empfinde immer noch Erstaunen über mich selbst, wie diszipliniert ich sein kann. Dass ich meinen Tag strukturieren kann auch dann, wenn mir niemand dabei zusieht. Ich liebe die Ruhe, mit der so ein Tag bereits beginnt. Niemand, der den ganzen Tag lang deinen Namen ruft, nur um dich zu sich zu rufen (anstatt zu dir zu kommen); keine drei Telefone, die gern gleichzeitig klingeln und gern auch gleichzeitig von verschiedenen Menschen bedient werden.
Wenn ich abends nach Hause kam, war ich so oft müde und erschöpft - und das nicht davon, wie viel Arbeit auf dem eigenen Tisch lag. Es war die Summe des Ganzen. Im Home Office ist das anders. 

Home Office bringt jedoch insbesondere mit sich, dass man viel telefoniert. Sehr viel. Noch mehr als sonst, denn man ist zwangsläufig physisch nicht erreichbar. Alles wird am Telefon besprochen, dienstliche Belange, private Sorgen, Frust, Kummer - die ganze Bandbreite des menschlichen Seins. Manchmal über eine Stunde lang, während du nebenbei verzweifelt versuchst, Zahlen sinnvoll auf dem Papier zu ordnen, E-Mails zu beantworten und Ausgaben korrekt zu kontieren. 
Für manche Menschen hat sich die Gewohnheit eingeschlichen, dass ich immer erreichbar bin. Dass ich zumindest in der Zeit von acht bis siebzehn Uhr erreichbar sein muss - ganz gleich, für welche Angelegenheiten. 

Obschon ich nach wie vor ein Mensch bin, der nicht gern telefoniert, weil ich mich einfach nicht an einen Ort, an einen Punkt, an eine Situation fesseln lassen möchte, in der ich nur zuhören und sonst nichts anderes tun kann, ohne dem anderen zu vermitteln, nicht hundertprozentig für ihn da zu sein, habe ich mich daran gewöhnt. An das Vieltelefonieren, an das Langtelefonieren, an das Zuhören und das Zeit-für-den-anderen-haben-und-nehmen.

Nur an eines gewöhnte ich mich in all den Jahren (auch des Telefonierens) nicht:
Dass Menschen in meiner Gegenwart wiederholt geräuschvoll die Nase hochziehen. 
Dass Menschen in meiner Gegenwart sich geräuschvoll mit offenem Mund räuspern. 
Dass Menschen Dich etwas fragen, Dir aber nicht zuhören, Dich dann auch nicht ausreden lassen und mit privatem Kram dazwischengrätschen.
Dass Menschen Dich anrufen und nach ein paar Sekunden wieder auflegen mit den Worten: "Warte mal, ich melde mich gleich noch mal, da kommt grad ein wichtiger Anruf." 
Dass Menschen während eines Telefonats mit dir ungeniert ihre Flatulenzen ausleben.

Menschen sind keine Selbstverständlichkeit.
Es ist nicht selbstverständlich, dass dich im Cafe jemand freundlich bedient.
Es ist nicht selbstverständlich, dass dir jemand zuhört, ganz gleich, ob am Telefon oder in der Realität. 
Es ist nicht selbstverständlich, dass sich jemand Zeit für dich nimmt.
Warum verhalten sich Menschen dann so, als sei der andere eine Selbstverständlichkeit?

Je älter ich werde, desto weniger verstehe ich es und desto weniger dulde ich es.

6 Kommentare:

angelface hat gesagt…

liebe Helma
Gute Umgangsformen sind anscheinend keine Selbstverständlichkeit mehr
die Sprache verroht
und mich erstaunt dass auch noch andere dies festellen
die Hoffnung darauf hatte ich längst aufgegeben -
an eine gute Kinderstube zu glauben
nach Begegnungen mit" der fremden Art"
die andere beandeln
als wären sie nicht da
selbstverständlich wie ein Stuhl von Platz zu PLatz verrückbar
doch unwichtig wie das Schwarze unterm Nagel...
die nächste Generation graust*s wenn sie es bemerkt
andere merken es nicht
weil: - ° sie es nie kennengelernt haben
oder nicht interessiert
ich würde mit deutsch-denglisch nict leben geschweige denn schreiben mögen
selbst wenn ich es müsste
würde ich lieber stumm werden
oder es beiben..
hervorragend dass es jemand mal so beschreibt
woran der Umgang miteinande so hakt und unbeliebt geworden ist..
ich denke
viele haben sich nichts mehr zu sagen
deshalb gibts ja praktischerweise Smartphone und Co
Facebook und all die anderen Plattformen
an denen man sich orientiert, festhält
und nicht mehr merkt was sie sind..
manipulationswerkstätten
vor der Anschaffung einen Roboter statt sich selbst zu regen
das Hirn einzuschalten und der Dummheit, Trägheit, Faulheit und Ignorantz ade zu sagen...

lieben Gruß angel..

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Angel, ja, ich fürchte auch, mit den nächsten Generationen wird es nicht besser werden, weil es ja immer diejenigen braucht, die zuvor diese Werte weitergeben. Im Gegenzug wird die Welt immer digitaler, schneller, kurzlebiger - eine Stenografie des Miteinanders, sozusgen.
Ich meine, ich muss gestehen, auch ich bevorzuge in vielen Fällen das geschriebene Wort, sei es über Whatsapp oder auch in sozialen Medien. Telefonieren liegt mir tatsächlich nicht so - und Briefe schreiben ist ja auch so ein Saurier unserer Vorzeit geworden.
Aber gerade in den sozialen Medien, genauer gesagt, in deren Kommentarspalten fällt mir immer wieder auf, was für einen Umgangston die Menschen pflegen. Wie gruselig nicht nur die Rechtschreibung, sondern vor allem auch die Grammatik geworden ist. Ich frage mich dann oft: Sprechen die Leute auch so wie sie schreiben? Vermutlich schon.
Auch wenn ich dabei immer versuche zu bedenken, dass der Mensch sich so leicht in der Anonymität des Netzes verstecken kann - und eine Seite von sich zeigt, die man in der Realität vielleicht nicht unbedingt vermuten würde.
Ähnlich wie Menschen, die zu Hause "unterdrückt" werden und sich dafür dann außerhäusig benehmen wie die Axt im Wald.
Oder im Lokal. Dass Menschen etwas zu essen, zu trinken bestellen, der Bedienung nicht mal ins Gesicht schauen beim Sprechen, keine Bitte formulieren und sich nicht bedanken.
An der Stelle kann sich niemand herausreden mit "hab grad nen schlechten Tag".

Lutz hat gesagt…

Ich würde nicht ganz so düster malen. Man kann selbst auch einen gewissen Einfluss darauf nehmen, wie sich die Dinge entwickeln. Natürlich nur einen kleinen, das ist klar. Aber mit jedem Steinchen macht man einen Damm eben auch höher.

Wenn ich Einkaufen bin, mal keinen Zeitdruck habe (eher selten) und jemand hinter mir steht, der nur 3-4 Sachen hat, dann lasse ich denjenigen vor. Ich habe in den letzten vllt. 5 Jahren bestimmt 8 oder 9 Mal jemanden vorgelassen. Und was soll ich sagen? In den letzten 2 Jahren bin ich auch zweimal vorgelassen worden, als ich nur eine Handvoll Dinge hatte.

Ich denke, solche Verhaltensweisen verbreiten sich wellenförmig. Man tut selbst etwas positiv Bewertetes, das wird von dem Anderen wertgeschätzt und plötzlich kommt derjenige auch auf die Idee, das einem Anderen zukommen zu lassen. Und bei dem wiederum hinterlässt das auch seine Spuren. Und irgendwann kommt das vllt. auch auf einen selbst wieder zurück.

Klar, nicht bei jedem fällt das auf fruchtbaren Boden. Aber wenn wir nur bei einem Teil der Menschen eine positive Verhaltensänderung durch eigenes Verhalten hervorrufen, verändert das die Gesellschaft auch immer ein bisschen zum Positiven.

Moralvorträge dürften da wenig helfen. Das empfinden viele eher als übergriffig. Daher lieber kontinuierlich mit gutem Beispiel vorangehen und irgendwann könnten dann (hoffentlich) kleine, aber beständige Änderungen eintreten.

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Hallihallom du: "An der Stelle kann sich niemand herausreden mit "hab grad nen schlechten Tag".
Ich habe auch immer mehr den Eindruck, dass ca. 95 % der mir bekannten und unbekannten Menschen 365 schlechte Tage im Jahr haben, deren Stundenzahl so in etwa bei 22 Stunden liegt. Wenn wir Glück haben, begegnen wir ihnen in den restlichen 2 Tagesstunden - aber das ist schwer.
Fröhliche Pack-Grüße an dich

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Ach Lutz, mir liegts sowas von fern, Moralvorträge zu halten. Wer bin ich, dass mir das zustünde?
Es sind einfach nur Dinge, die mir im Alltag begegnen und auffallen, ein ums andere Mal.
Das, was ich an Werten lebe und weitergeben kann, versuche ich, indem ich es einfach lebe.
Dennoch fallen mir mangelnde Umgangsweisen auf - und schreibe darüber. So wie ich auch über die positiven Erfahrungen schreibe und auf die ich mich konzentriere. Alles andere komplett auszublenden, gelingt mir nicht immer.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Ja Clara.. Ich frag mich immer wieder mal: Sind die Zeiten aktuell so anstrengend - oder ist jede Ära so und jeder glaubt, er habe die schwierigste?
Jammern wir auf hohem Niveau - oder verändert sich wirklich grad einiges Elementares?
Im Moment hab ich da einfach keine Antwort drauf.