Donnerstag, 30. November 2017

Auf das Leben


„Ich bin noch nicht soweit“, sagt sie schließlich.
Sie steht vor dem Kleiderschrank, die Türen weit geöffnet, sie sieht auf die Hemden, auf die sorgfältig zusammengelegten Hosen, auf die Krawatten in der Schublade, eine Schublade tiefer die Socken.
„Aber du musst."
„Und wieso muss ich? Was glaubst du, wieso ich muss?“
„Weil es gut wäre für dich. Besser wäre für dich. Du wirst nicht jeden Tag daran erinnert, dass er nicht mehr da ist. Nicht jedesmal, wenn du den Schrank öffnest.“
„Du hast ja so gar keine Ahnung.“
Sie wendet sich dem Schrank wieder zu, ohne dass sie irgendetwas tut oder überhaupt etwas tun möchte.
Was weißt du schon davon, dass er überall ist.
Dass er jeden Morgen mit ihr erwacht und sie nur hinüberzublinzeln braucht, um ihn zu sehen. Die Hand nach ihm auszustrecken, so wie sie das nachts oft getan hat, nur um sich zu vergewissern, dass er da war, dass er bei ihr war und dass es nichts gab, wovor sie Angst haben musste. Die Hand auf seinen Bauch legen und wieder einschlafen mit dem wohligen Gefühl der Geborgenheit.
Dass er sie jeden Morgen ermahnt, wenn sie wieder zu lange duscht: „Ich werde eine Petition einreichen. An den Bundestag, weil meine Frau eine außergewöhnliche Belastung ist und das Finanzamt das nicht einsehen will.“
Dass er ihr das Frühstücksei kocht, weich, so wie sie es eigentlich mag, und meist doch viel zu weich, so dass sie dann beginnt zu lachen: „Ich wollte das Ei essen, nicht auspusten!“
Dass er abends Reportagen schaut, während sie liest oder schreibt, und ihr ab und ein einen Blick zuwirft, sie sich dann anlächeln und weitermachen mit dem, was sie gerade beschäftigt.
Es ist völlig egal, ob seine Kleider noch da sind oder nicht.
ER ist da.
Er ist immer da.
So wie es jeden einzelnen Morgen schmerzt, wenn sie erwacht und erkennt, dass er nicht mehr neben ihr liegt.
Sie hat kein Ei mehr gekocht, seit er fort ist. Bis in die Nacht hinein schaut sie Reportagen, Dokumentationen, irgendwelche Filmchen, weil sie Angst vor diesem Gefühl hat, abends mit dem intensiven Gefühl, er läge neben ihr, einzuschlafen, nur um morgens zu sehen, dass das Bett neben ihr leer geblieben war. Dass er einfach nicht da ist und auch nicht mehr wiederkommt."
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Wie oft hatte der Vater seiner Mutter vorgeworfen, sie benehme sich nicht ihrem Alter entsprechend, sie kleide sich nicht ihrem Alter entsprechend und dass es letztlich auch für ihn nicht gut war, wenn man über sie redete.

„Ich weiß gar nicht, was du von mir willst“, hatte seine Mutter vergnügt geantwortet, „ich habe fünfzig Jahre nur für euch gelebt und jetzt genieße ich die paar Jahre, die ich noch hab, auf meine Weise. Schlimm genug, dass ich überhaupt so lange gewartet habe.“
„Hast du denn nicht verstanden, dass es albern und nicht modern ist, wenn eine alte Frau auf Teufel komm raus noch jung sein will?“
„Du, mein Junge“, hatte die Großmutter gelächelt, „hast nicht verstanden, dass ich gar nicht versuche, jung zu sein, sondern dass ich es immer noch bin.“ 

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