Mittwoch, 1. November 2017

In meinen Schuhen

Vermutlich hat sie es längst bereut, dass sie mir davon erzählte. Und vermutlich hat sie es eher auch nur beiläufig erwähnen wollen und im Traum nicht daran gedacht, dass und wie nachhaltig es mich beschäftigen würde. Oder dass ich auch überhaupt so eindringlich darauf reagieren würde.
"Ich glaube, du interpretierst da zuviel rein", hat sie geantwortet.

Ich erinnere mich an einen gemeinsamen Abend vor vielleicht sieben, acht Jahren. Zu viert haben wir an einem Tisch gesessen, Erzählungen kommen nur schleppend in Gang, eigentlich unterhält sich eher der Mann mit ihr, während mein Jüngster und ich meistens schweigen oder nur wenige Worte miteinander wechseln. Irgendwann fragt sie meinen Jungen etwas und weil er nicht sofort antwortet, tue ich es. Völlig gedankenlos, gestehe ich mir später ein.
"Lass ihn doch selber antworten", sagt sie, "er ist doch alt genug."
Damals hat sie noch keine Kinder, ich nippe an meinem Glas, lächle verlegen und denke, dass sie es eines Tages sehr viel besser machen wird als ich das je tat.

Manchmal schaue ich auf meinen Ältesten und frage mich: Wie viel seiner Persönlichkeit liegt in ihm selbst begründet, und wie viel oder wie wenig hat er durch mich mit auf den Weg bekommen?
"Er könnte es besser, wenn seine Mama ihm nicht immer alles abnehmen würde", höre ich die Erzieherin nachsichtig mahnen, als er ungefähr zwei oder drei Jahre alt gewesen sein mochte.
"Er kann es selbst", entschuldigte ich mich, "aber ich habe keine Zeit zu warten."
Sie weiß nicht, wie mir jeden Morgen die Zeit im Nacken sitzt, wenn ich unmittelbar nach sechs Uhr morgens abgehetzt im Kindergarten durch die Tür trete, ausziehen, umziehen, Hausschuhe anziehen, erst dann dürfen sie den Spielraum betreten. Erst dann kann ich ihn in die Obhut der Erzieherin geben und zusehen, dass ich es noch bis sechs Uhr dreißig an meinen Schreibtisch im Nachbarort schaffe.
Sie weiß nicht, wie manchmal der Chef vor mir steht, wenn ich das Büro betrete, abgehetzt um sechs Uhr fünfunddreißig, und er schaut demonstrativ auf seine Armbanduhr, verdreht demonstrativ die Augen und lässt die Tür zu seinem Büro hinter sich ins Schloss fallen.
Gleitzeit. Wir haben Gleitzeit. Eigentlich.
Er schaut niemals demonstrativ auf seine Armbanduhr, wenn ich irgendwann zwischen fünf und sechs oft fluchtartig das Büro verlasse, um rechtzeitig daheim zu sein, vorher einkaufen, Besorgungen erledigen, Post wegbringen, das Kind bei der Oma einsammeln, Essen zubereiten, Haushalt, immer die Uhr im Nacken, weil ich mich auch in meinem Zuhause einem fragwürdigen Zeitplan zu beugen habe, der keinen Widerspruch duldet oder zulässt.
Ich muss funktionieren - also muss es das Kind möglichst auch, es darf mir nichts passieren.
Und weil ein Kind ein Kind ist und sich eben keinem Zeitplan unterwirft, mache ich lieber schnell selbst... Es ermöglicht mir das Ausweichen vor noch mehr Konflikten, noch mehr Diskussionen und noch mehr Streit, wofür mir mit den Jahren und dann dem zweiten Kind beinah vollständig die Energie fehlt. Morgens vier Uhr dreißig aufstehen, Frühstück zubereiten, Brote für den Ehemann, der beklagt, dass in seinem Verpflegungspaket für den Tag keine liebevollen Überraschungen bei sind wie das die Frau seines Kollegen immer macht; Brote für die Kinder, die Kinder essen, während ich mich für das Büro zurechtmache, die Kinder anziehen, unter den Arm packen, zum Hort, zum Kindergarten, denn sechs Uhr dreißig beginnt der Job bis in die Abendstunden, Besorgungen oder einkaufen, Post wegbringen, Abendessen zubereiten, Kinder versorgen, Haushalt - ein ewiger Kreislauf.
Wenn ich mir all das vor Augen führe, dann nicht, um mir gegenüber zu rechtfertigen, dass ich gar nicht anders gekonnt hatte. Doch, kann man, das kann man immer - aber in diesem Stadium meiner eigenen Persönlichkeit war es zumindest mir nicht möglich. Nicht ohne Unterstützung von außen, die mit dem Tod der Mutter des Ehemannes ein halbes Jahr nach dem vierten Geburtstag meines Ältesten vollständig wegbrach.

Manchmal frage ich mich, welche Art Mama ich eigentlich damals war. Nicht so liberal wie heute, denke ich. Eher eine gestresste Mama mit einem genau getakteten Zeitplan und immer der Sorge im Nacken, was mir widerfahren würde, wenn auch nur irgendwas diesen Zeitplan durcheinander brachte.
Ich glaube, ich war früher eine wesentlich autoritärere Mama als ich es heute bin. Meine Kinder durften nicht alles und sie bekamen auch nicht immer alles. Dinge wurden erklärt, aber auch nicht alles gnadenlos ausdiskutiert, sondern festgelegt: "So ist es jetzt." Es gab niemals einen Zweifel: Die Mama bin ich - das letzte Wort den Kindern gegenüber hatte ich.
Ich weiß noch heute, wie schockiert ich war, als meine Freundin ihrem damals Dreijährigen eine Ohrfeige gab.
Ich weiß noch heute, wie unvermittelt meine Mutter mir hin und wieder eine Ohrfeige gegeben hatte.
Ich weiß noch heute, wie unvermittelt mir mein Ex-Mann eine Ohrfeige gab. Oder mir die Schulter verdrehte.
Ich weiß noch heute, wie der Älteste zurückzuckte bei einer schnellen Bewegung von mir - obwohl ich nie niemals auf die Idee gekommen wäre, ihn in sein Gesichtchen zu hauen.
Ich hasse es. Ich hasse und verabscheue es zutiefst. Gewalt kann ich nicht aushalten, nicht ertragen, weder verbale noch körperliche.
In Streitgefechten kann ich flammend werden, leidenschaftlich - auch ironisch oder gar zynisch, wenn ich mich provoziert fühle - aber Gewalt verabscheue ich damals wie heute.
Bis heute reagiere ich sehr empfindlich auf jegliche Form von Gewalt.
Keinem meiner Söhne wäre je in den Sinn gekommen, mich zu hauen oder zu treten. Nicht mit drei Jahren, nicht mit dreizehn Jahren und erst recht nicht jetzt. Umso verdutzter reagiere ich auf Begründungen wie "Zahnungsprobleme" oder "Persönlichkeitsentwicklungen". Zahnungsprobleme bei einem Fünfjährigen?
"Das ist jetzt aber wirklich sehr weit hergeholt."
"Es ist kein Schlägerkind, so ist es nicht."
"Das sagte ich gar nicht. Aber es macht nach, was ihr ihm vormacht. Und dass es keine Konsequenzen hat, wenn einer den anderen schlägt."
"Ich glaube, du interpretierst da gerade zu viel rein."
Ich weiß, dass Kinder sich austesten. Dass sie ihre Grenzen ausloten. Das tun auch wir Erwachsenen, immer wieder neu. Und ich weiß, dass das bis zu einem gewissen Grad auch gesund so ist. Dennoch frage ich mich: Kann und muss man alles und jedes verstehen, analysieren wollen, begründen wollen und ein Pseudo-Verständnis aufbringen, das uns daran hindert, Grenzen auch aufzuzeigen? Unmissverständliche Grenzen? Dem Kind? Und dem Partner?

Ich hab einiges versäumt und falsch gemacht in der Erziehung meiner Söhne. Aber über eines bin ich sehr, sehr froh: dass sie niemals jemanden geschlagen haben. Erst recht nicht jemanden, den sie lieben.

Manchmal betrachte ich die Kinder in der U-Bahn, in der Stadt, in den Straßen, in den Cafes. Die meisten lassen mich lächeln. Und manche lassen mich unendlich dankbar sein, dass meine Kinder inzwischen erwachsen sind. Ich liebe Kinder, aber ich finde sie nicht alle niedlich und drollig. Und diese gnadenlos Verzogenen, diese Prinzen und Prinzessinnen, die "heiligen Kühe" mancher Eltern, die, die alles dürfen und am lautesten plärren, wenn nicht alles nach ihrem Kopf geht und dann ist das Geheule auch noch okay, weil, "dafür sinds ja Kinder", die habe ich besonders "gern". Auch wenn ich eigentlich eher wütend auf deren Eltern bin.

8 Kommentare:

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Helma, ich habe bald Schnappatmung bekommen, dass du deinem Mann die Arbeitsschnitten geschmiert hast und dass er sich dann auch noch beschwert hat. Das wäre dann bei mir der letzte Tag gewesen, an dem er Stullen mitbekommen hat.
Mit den Kindern auf der Straße und in Verkehrsmitteln sehe ich das ähnlich.
Ganz so stressig war es mit meinen beiden nicht, aber ich habe auch einige Jahre nicht voll gearbeitet, was ich jetzt an der Rente merke.
Ganz lieben Gruß zu dir

Pyrgus hat gesagt…

Rückblickend kann man immer nur sagen, dass man zu dem Zeitpunkt, in dem man in der Situation steckte, das Beste getan hat, was man konnte. Weil man es gut machen wollte für die Kinder. Das stressbedingte "Selbsterledigen" kenne ich auch. Ich hatte es damals aufgegeben, mich und mein Verhalten irgendwem zu erklären, hatten sowieso alle ihre Meinung.

Über das Schlagen allerdings denke ich: So einfach ist das nicht. Kinder können das zu Hause erleben und selbst nicht tun, oder aber umgekehrt. Einfach, weil sie es wollen, weil sie Etwas dazu treibt. Kindliche Machtgefühle, Ohnmacht, Stress, Fernsehen, andere Kinder und und und.
Es gibt Verhaltensweisen in Kindern, die man nicht unmittelbar auf irgendein Erlebnis zurückführen kann.

Lieben Gruß
Gabi

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Gabi, ja, das sehe ich schon auch so - aber ich frage mich vor allem, wie man dem begegnet, gerade bei Kindern. Und gerade, wenn sie nicht nur ihre Eltern "hauen und treten", sondern auch andere Kinder. Und gerade auch unter dem Aspekt, dass sie zu Hause Gewalt erleben, wiederholt, und sie ebenso erleben, dass dies keine Konsequenzen hat.
Ja vielleicht empfinde ich es überspitzt, vielleicht reagiere ich da auch (aus Gründen) zu dünnhäutig drauf. Trotzdem gibt es Dinge für mich, die man nicht "weichreden" kann - und auch nicht sollte.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

P.S. Ich merke schon auch, wie das Thema an sich in mir arbeitet - und vielleicht sollte ich mich an dieser Stelle einfach auch raushalten und zurückziehen. Vielleicht bin ich da einfach kein guter "Berater".

Anonym hat gesagt…

Liebe Helma, wenn ich das richtig gelesen habe, geht es darum, dass da ein Kind andere Kinder oder auch seine Eltern schlägt.
Du interpretierst das hier vor allem als nachgeahmte oder ausgetestete Anwendung von Gewalt.
Es gab auch bei meinem Sohn eine Phase, ja es muss wohl ein ähnliches Alter gewesen sein, ich glaube, gerade als er in die Schule kam, in der er mir mit den Fäusten gegen den Oberschenken hämmerte, wenn er frustriert war, nicht durfte oder bekam, was er wollte. Ich hab mich oft gefragt, woher das kommt, gerade weil ich beide Arme dafür ins Feuer lege, dass da bei uns niemals irgendeiner den anderen geschlagen oder auch nur gegen seinen Willen festgehalten hätte.

Ich habe das beobachtet und mit ihm gesprochen, ihm gezeigt, dass mir das weh tut, dass das nicht nur körperlich weh tut. Aber ich habe immer gemerkt, dass er das nicht tat "weil er's kann" oder weil er es irgendwo gesehen hat und auch nicht, weil er bewusst austesten wollte, wie weit er gehen kann und wie weit er damit kommt.

Später begriff ich, dass das sein Ausdruck von seelischer Überforderung war, ein Ausdruck der Hilflosigkeit mit der er dem begegnet ist, dass "wir Erwachsenen" ein ums andere Mal seine kleine Welt vollkommen zertrümmern und nach Belieben verändern konnten, ohne dass er auch nur den Hauch einer Wahl gehabt hätte. Schimpfen und Konsequenzen hätten ihn nur noch weiter unter Druck gesetzt und möglicherweise das Gegenteil bewirkt.

Er war damals gerade in die Schule gekommen, sein Papa hatte eine Freundin, deren Kind schon nach wenigen Wochen ebenfalls "Papa" sagte, ich hatte mehr Downs als Ups mit K. und war wenig später wieder allein. Für ihn muss sich das wie das pure Chaos angefühlt haben, Bezugspersonen wechselten, neue Anforderungen mussten bewältigt werden, Verlustängste, die er nach unserer Trennung hatte, brachen massiv wieder auf.

Ein Fünf-, Sechsjähriger und auch noch danach, hat keine Strategie, keinen Plan, wie so etwas zu bewältigen ist. Er hat keine Lebenserfahrung, auf die er zurückgreifen könnte. Aber er hat ein angeborenes Temperament, ist schüchtern oder aufgeschlossen, still oder eher laut und noch ganz viele Eigenschaften mehr, die eine Rolle spielen, Einzelkind oder nicht etwa.
Sein Schlagen war damals Ausdruck seiner großen seelischen Not. Als sein Vater und ich in Begleitung eines Psychologen u.a. einen neuen Betreuungsplan herausarbeiteten, wurde seine Welt wieder sicherer, er selbst wurde sicherer und das Schlagen hörte auf.

Liebe Grüße
Miri

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Miri, mich beschäftigt die Thematik immer noch sehr - auch im Dialog mit Betroffenen. Und wenn sich für mich selbst eines immer mehr heraus"kristallisiert", so ist es weniger das Verhalten des Kindes als vielmehr die Reaktion der Eltern darauf etwas, das mich belastet. Eben auch aufgrund ihres Umgangs untereinander - nicht nur mit dem Kind.
In diesem Punkt belastet, weil hier für mich eine sehr emotionale Beziehung besteht.

Mir ist bewusst, dass das mein Thema ist und nicht das eines anderen, auch nicht das Thema von Betroffenen. Drum denke ich eben auch, dass ich mich hier vielleicht besser zurückziehen sollte.
Zu dem Thema "hauen" selbst habe ich gelesen, dass Kinder sich beschützt fühlen wollen, nicht nur die Kinder getrennter Eltern. Und dass sie sehr wohl wahrnehmen, wie ihre Eltern mit Situationen umgehen, auch dann, wenn sie beispielsweise ihre Eltern hauen. Zeigt sich der Elternteil wiederholt "schwach", verliert das Kind das Vertrauen darin, dass die Eltern es beschützen können. Weil sie nicht mal sich selbst schützen können. Ich denke, dass das gar nicht so abwegig ist. Und für mich die Frage erhebt, ab wann bei jemandem etwas schiefgegangen ist, der als Erwachsener andere Menschen schlägt?

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

...bzw. die Frage erhebt, warum der andere es zulässt.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

...und beide Seiten haben ihren Grundstein in der Kindheit, meistens jedenfalls. Und meistens wissen beide Seiten, was falsch ist - aber verhalten sich dennoch immer wieder gleich..
Weil sie sind wie sie sind?
Weil sie es nicht anders gelernt haben?