Donnerstag, 15. November 2018

...denn ich fahre jeden Morgen ans Meer



Ich bin es doch, dachte ich, ich, die Frau im roten Kleid, die Kaffee liebt - und nicht nur den.
Rot ist auch die Farbe der Energie. Rot ist die Kampfansage.
Ich bin es doch, die dieses Leben so sehr liebt, weil sie nur diese eine hat, nur diesen einen Versuch.
Ich bin es doch, die ihr ureigenstes Mantra lebt, nach dem es immer einen Anfang und immer ein Ende gibt - dass man nie weiß, wie viel Zeit einem dazwischen bleibt und es nur darauf ankommt, in dieser Zeit dazwischen möglichst glücklich zu sein.

An all dies denke ich, während ich dem Mann offen, direkt und gerade in die Augen schaue. Wie er da in seinem weißen Kittel lässig auf der Liege sitzt, auf mich herabschaut und vor mir ausbreitet, wie mein Leben die nächsten Wochen und Monate aussehen soll.
"Mein Bauchgefühl sagt, wir sollten das so machen", sagt er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet.
Wenn er wüsste, dass er meinen Widerspruch gerade damit erst herausfordert ;)
Ich habe aber auch ein Bauchgefühl, denke ich, während ich ihn freundlich anlächel, ohne zu antworten, ein ziemlich gutes, verlässliches sogar, und ich denke gar nicht daran, mir dieses ausreden zu lassen.
Also lächle ich immer noch freundlich, während wir uns die Hand reichen, verabschieden.
In den folgenden Tagen belese ich mich über die Thematiken, ziehe Schlüsse und wähle am zweiten Tag den anderen Weg. Einen, bei dem ich beinah offene Türen einrenne. Einen, der mir unerwartet zustimmt - und einiges übernehmen wird, weil "wir haben ja schon viel zuviel Zeit verschenkt."
Ein Weg, mit dem ich mich wesentlich besser fühle - und der mir Aufschub schenkt für die Menschen und die Dinge, um die ich mich zwingend jetzt und nicht irgendwann vielleicht später kümmern möchte - und muss.

In der darauffolgenden Nacht träume ich, am Ufer eines Meeres zu stehen. Irgendwie  kommt mir alles so bekannt vor, ist es der Flecken Erde, woher ich stamme? Ich steh am Ufer und schaue auf das blaugrüne Wasser, auf die Wellen, auf die Felsen linker Hand, bis ich erkenne, dass etwas ans Ufer gespült wird.
Es ist ein Mensch, der angespült wird.
Es ist eine Frau, die angespült wird.
Es ist eine Frau mit langen dunklen Haaren und nur mit einem Bikini bekleidet.
Je näher sie ans Ufer gespült wird, desto mehr scheine ich mich nach oben zu bewegen.
Grad so, dass ich auf diese Frau herabschauen kann. Fern genug, um sie nicht zu berühren. Nah genug, um zu erkennen, dass ich selbst diese Frau bin. Ich bin diese tote Frau, die im Wasser angespült wird, das Gesicht nach oben gewandt, unter der Wasseroberfläche wie hinter Glas, der Körper ganz weich und nachgiebig mit jeder Bewegung der Wellen, gleich einer äußerst beweglichen Gliederpuppe...
Ich schaue auf mich selbst hinunter, ich habe so absolut keine Angst - aber ich bin ausgesprochen verwundert: Wieso bin ich tot?

Unter traum-deutung.de finde ich dazu eine mögliche Erklärung:
"Die See, das Meer und der Ozean stehen auch in der Traumforschung für die Sehnsucht des Träumenden nach Freiheit und Abenteuer. Obendrein wird dem Wasser in der Traumwelt allgemein eine reinigende Wirkung zugeschrieben. Wer also davon träumt, in den Fluten der See und der Meere umzukommen, sollte nicht in Panik verfallen. Vielmehr wird er sich von einigen belastenden Gefühlen befreien können, was ihm einen unbeschwerten Neuanfang ermöglicht."

Es war letztes Jahr etwa um die Weihnachtszeit, vielleicht auch die Zeit um den Jahreswechsel, mit dem sich eine wunderbare Ruhe in mir ausbreitete. Eine Zuversicht, die sich kaum erschüttern lässt. Als würde ich einen Mantel abgelegt haben und mit diesem Ängste, Zweifel, Kummer.
Nicht vollumfänglich, natürlich nicht. Jedoch bei all dem, das ich tue und mit dem ich mich umgebe, erfüllt mich über dieses ganze Jahr hinweg diese Ruhe und diese unerschütterliche Zuversicht, die mich nach zwei, drei Tagen erneut aufstehen und weitermachen lässt.
Der Mann wiederholt wieder und wieder, dass er so gern etwas von der Ruhe in mir hätte.
Die Kollegin wiederholt, dass sie niemals einen Tag frei machen wird, wenn ich mit im Büro bin. "Es ist ganz anders, wenn du da bist. Dann ist es einfach nur schön."
Die Bekannte sagt: "Woher nimmst du nur immer deine Kraft?", bevor sie aus Sorge zu weinen beginnt.

Ich weiß, dass ich nicht da bin wo ich sein wollte.
Aber ich weiß, woraus ich meine Kraft auch schöpfen kann.
Und mit jedem Tag, den ich meinen kleinen Schwarzen über die Autobahnen lenke, drehe ich die Musik auf, ich singe laut, ich singe falsch, aber ich singe mit ganzem Herzen - und jedesmal ist es mir dann, als würde ich gar nicht ins Büro fahren, sondern tatsächlich ans Meer. Als lägen auf dem Rücksitz nicht das Notebook und das Diensthandy, sondern die Tasche mit den Sommerkleidchen, den Sommersandalen und den Büchern, die ich lesen möchte, während ich im warmen Sand liege.
Mit jedem Abend, den ich das Abendessen zubereite, drehe ich die Musik auf, ich singe laut, ich singe falsch, aber ich singe mit ganzem Herzen - und bewege mich tanzend zwischen Gemüse schneiden und Geschirr aus dem Regal nehmen.
Ich habe gelernt, von mir wegzuschieben, was ich nicht unmittelbar ändern kann - und die Kraft zu sammeln für den Moment, wo ich etwas tun, wo ich etwas bewirken kann.
Ich weiß, dass es Narben in mir gibt, die niemals mehr heilen werden - aber ich lerne mit jedem Tag mehr, mit ihnen zu leben. Weil es auch keine andere Möglichkeit gibt. Uhren lassen sich nicht zurückdrehen. Jedoch mit dem, was ich habe, kann ich noch ganz sehr vieles machen - denn ich habe verdammtes Glück gehabt all die Jahre.

Es ist Mitte November und für einen Jahresrückblick ist es vielleicht noch zu früh.
Aber ganz gleich, wie dieses Jahr endet: Es war ein gutes Jahr. Ein wirklich gutes für mich und meine Seele.

Und wer weiß, vielleicht komme ich eines Tages ja wirklich noch da hin, wo ich immer sein wollte.
Jedenfalls ich glaube daran.

2 Kommentare:

Goldi hat gesagt…

Ein klein wenig, oder doch mehr mach ich mir jetzt schon Sorgen wegen dem weißen Kittel...
Du wirst dorthin kommen, wo du hin willst, ganz sicher - vielleicht wird es etwas Überzeugungsarbeit beim Blauen benötigen, so im Hinblick auf "nein wir kraxeln keine Berge hoch, platt ist lebenswert" und "ja, das ist schon richtig, dass diese kleine Dorfanlage unser Zuhause wird, die Jungs und ihre Familien sollen ja auch Platz haben und wir wollen uns ja nicht auf der Pelle hängen" ( so oder so ähnlich) du weißt schon was ich meine :-* verdient hast du es und es wird so werden wie du es dir wünschst :-*

Anonym hat gesagt…

Ich mir auch Helma.. Wegen dem weissen Kittel..
Wahnsinn, was für ein Traum.. Bedrückend im ersten Augenblick und wunderschön zugleich. Das Bild ist wunderschön :-)
Deine Zuversicht und Kraft strömen aus jedem Wort :-) ich halte die Daumen!