Freitag, 24. Juli 2020
All the Love in the World
Donnerstag, 23. Juli 2020
Stimmen
„Haben Sie später darüber gesprochen?“ Die Ärztin fragt ruhig, geduldig und ihr kommt unwillkürlich der Gedanke, ob die Ärztin im Privatleben auch so ruhig und geduldig sein mochte. Ob sie wohl Kinder hatte? Ob sie einen Mann hatte? Wie sie wohl sein mochte, wenn sie abends heimkam? Nur schwer vermag sie sich vorzustellen, wie ihre Ärztin sich in die Küche stellt und Fleisch brät.
„Ich habe ihn erst ein Jahr nach unserer Trennung wiedergesehen“, antwortet sie schließlich. „Und wir… wir haben nicht über uns gesprochen. Oder so. Er hat nicht gefragt, ich habe nichts gesagt. Er hat mir von einer anderen Frau erzählt.“ „Wie war das für Sie?“ „Ich weiß nicht“, sie zieht die Schultern noch, verharrt in dieser Position. „Ich wünschte ihm, dass er glücklich sei. Und mit mir… ging das ja ganz offensichtlich nicht.“ „Hat er Ihnen das gesagt?“ „Nein.“ Sie schaut zum ersten Mal der Ärztin in dieser Stunde klar und offen in die Augen. „Das musste er so nicht sagen. Er sagte, er sei glücklich. Er sagte, es gehe ihm gut. Und er sagte, er spüre mit dieser Frau endlich, was Liebe bedeutet.“
Sie schaut zum Birnbaum hinaus, ein Blick, den sie oft und gern verschenkt, wenn sie nachdenkt, wenn Erinnerungen erwachen und sie die rechte Zeit dafür bekommen möchte, diese zuzulassen. Sonnenschein gibt es heute keinen. Irgendwie trotzdem ein trostloser Anblick, denkt sie. Trostlos fühlt sie sich selbst jedoch nicht.
„Wie ging es Ihnen damit? Mit dieser Aussage?“
Sie antwortet nicht. Sie schaut noch immer auf diesen Birnbaum, doch vor ihren Augen hat sie das Bild, wie sie nebeneinander gesessen haben, auf dem Fußboden vor ihrem Sofa. Sie haben Tee getrunken und Kekse gegessen, über den mageren Körper hatte sie eine lange Strickjacke gezogen und die Haare zusammen gebunden. So wie er ihr Haar am liebsten mochte. Sie hat seinen Geruch geatmet, sie hat seinen Geruch geschmeckt und sie hat die Wärme seines Körpers an ihrem Arm gespürt. Wie vertraut er sich anfühlte, wie vertraut er schmeckte und wie vertraut seine Stimme klang nach diesem Jahr, in dem sie sich nicht sahen oder voneinander hörten.
Sie hat ihm zugehört, wenn er von der anderen Frau erzählte, sie hat ihm geantwortet, wenn er fragte.
„Warum haben Sie ihm nicht gesagt, was Sie für ihn noch immer fühlten?“
„Hätte es denn irgendeinen Sinn gemacht? Hätte es denn irgendetwas geändert?“
„Warum haben Sie ihn nicht gebeten zu schweigen? Sie hätten sich auch über andere Dinge unterhalten können.“
„Ja.“
Ja. Warum eigentlich nicht? Warum hat sie ihm zugehört, wie er von dieser anderen Frau erzählte und dabei wünschte, alles sei wie vor einem Jahr? Das kann sie nicht beantworten.
„Was ist dann passiert?“
„Nichts. Er ist gegangen, wir haben uns ganz normal verabschiedet.“
„Sonst ist nichts passiert?“
„Ich habe mir nicht die Arme aufgeschnitten oder sowas, falls Sie das denken. Ich habe mich anschließend nur fürchterlich übergeben. All den Tee, all die schönen Kekse. Ein Jammer.“
Einen Moment schweigen sie beide.
„Es ist ähnlich wie in Ihrer Ehe gewesen. Jemand verletzt Sie und Sie lassen es zu. Sie schauen zu und wehren sich nicht.“
„Es war nicht seine Schuld. Er wusste ja nicht, dass ich… dass ich ihn immer noch liebe.“
„Aber Sie wussten es. Und Sie haben nicht reagiert. So wie in Ihrer Ehe nicht. Sie mögen sich gegen die Verletzungen gewehrt haben, aber Sie haben nichts unternommen, dass es auch aufhört.“
„Ja. Ich weiß. Ich weiß, dass ich selber schuld bin.“
Die Ärztin beugt sich vor.
„Es geht hier nicht um Schuld“, antwortet sie eindringlich. „Es geht darum, dass Sie Verletzungen durch andere zulassen. Und wir müssen herausfinden, warum das so ist.“
„Ich bin müde. Darf ich jetzt gehen?“
„Wir haben gerade erst begonnen.“
„Ich bin trotzdem müde.“
„Malen Sie eigentlich immer noch?“
Überrascht schaut sie auf.
„Ja. Warum?“
„Wann haben Sie das letzte Mal gemalt? Und was?“
„Das Gesicht einer Frau. Die Hälfte ist verdeckt von ihren Haaren. Die andere Hälfte ist… groß, eigentlich… zu groß. Der Mund… Das Auge…“
„Sie haben sich selbst gezeichnet?“
„Ich weiß nicht“, sagt sie überrascht, „der Gedanke ist mir noch gar nicht gekommen.“
„Große Augen… Wissen Sie, Sie haben manches Mal so große Augen, als würden Sie erstaunt die Welt entdecken und erst jetzt feststellen, was es alles Schönes in ihr gibt. Dabei bin ich mir sicher, dass Sie um all dieses Schöne bereits wissen. Es ist nur… Vielleicht schauen Sie bewusster. Vielleicht nehmen Sie bewusster auf. Und je bewusster Sie aufnehmen, umso mehr lassen Sie es an sich heran.“
„Ich bin wirklich müde“, wiederholt sie nun, „ich muss jetzt wirklich unbedingt gehen.“
„Erlauben Sie mir, dass ich Sie später noch einmal anrufe?“
Sie zuckt die Schultern, unschlüssig.
„Gut. Dann… entlasse ich Sie für heute.“
Also geht sie, fährt sie heim, sie verkriecht sich in ihrem Bett, presst die Hände auf die Ohren, um den Stimmen zu entgehen, die die Erinnerung hervorgeholt hat.
***
Und nun sah er ihr zu und ihm fiel wieder ein, warum er sich in sie verliebt hatte, damals, vor wenigen Jahren.
Es war ihr Lachen.
Es war ihre Begeisterung, die ihn mitriss, die beinah kindliche Freude über die kleinen Dinge.
Es war diese Mischung aus Mädchen und Frau, diese wechselnden Rollen, die sie nicht spielte, die ihr nicht bewusst waren, diese Rollen, in denen sie ihm immer wieder begegnete und es ihm möglich machte, sie immer wieder aufs Neue zu entdecken. Bei all den Sorgen und Problemen jedoch, gegen die sie beinah täglich ankämpften, hatte er fast dieses Mädchen in ihr vergessen. Sein Mädchen. Er ist froh, dass er diesen Tag mit ihr teilen konnte. Sie ist dankbar, dass er bei ihr ist.
Als sie spätabends die Galerie verlassen, zieht sie die Schuhe aus, läuft barfuss zum Auto und wirft sich in den Sitz. “Würden Sie mich nach Hause fahren, junger Mann?” “Tut mir leid, das geht nicht. Meine Frau kommt gleich. Meine wunderschöne Frau. Sie würden Sie mögen.” Sie schaut ihn an, dann lacht sie unvermittelt und hebt die Arme, um ihn zu umarmen.
Mittwoch, 22. Juli 2020
Die Last der Erinnerung
Aus "Endlich!" von Ildiko von Kürthy |
Noch heute ist ihr dieser Moment gegenwärtig, als er sich zu ihr beugte und auf die Wange küsste und sie spürte: Er ist anders, er ist… besonders.
„Du Augenmensch“, hatte U. später gelacht und den Kopf geschüttelt.
Sie hatte mitgelacht und nicht geantwortet. Darauf zu antworten, käme ihr gleich, als habe sie ihn oder sich selbst zu verteidigen – es gab aber nichts zu verteidigen.
Ob es sein Lächeln war, ob es sein Geruch war, ob es sein offener Blick war oder einfach nur das Gefühl, dass sie in ihm etwas von sich wiederfand, das vermag sie bis heute nicht zu sagen. Sie weiß nur, dass jene Faszination noch immer in ihr lebt, mit jeder seiner Rückkehr vom Meer, wenn er im Badezimmer steht und sich den Bart abschabt und sie seinen leicht gebeugten Rücken betrachtet, während sie auf dem Wannenrand sitzt und ihm zusieht, um nicht einen einzigen dieser kostbaren Momente zu verschenken, in denen sie zusammen sein können.
Sie liebt es, seine Hemden auf ihrer nackten Haut zu spüren, seine Shorts zu tragen, ihre Musik zu hören, während sie Obst zerschneidet und darauf wartet, dass er mit dem Hund vom Lauf zurückkehrt.
„Dieser andere Mensch, wir sollten ihm einen Namen geben, oder auch Ihr jetziger Partner – glauben Sie ihnen heute nicht mehr?“
„Er heißt M.“ entgegnet sie gedankenverloren.
„Okay, M. Ihm und Ihrem Partner glauben Sie also nicht mehr?“
„Ich weiß nicht. Was M. denkt oder fühlt“, sie richtet den Blick wieder auf ihre Ärztin, „weiß ich nicht und es ist auch nicht mehr wichtig für mich. Er hat sich für sein altes Leben entschieden, ich mich für einen anderen Weg. Das wars. Er hat es sich eben einfach gemacht.“
„Zu bleiben… ist nicht immer der einfachste Weg. Und das wissen Sie.“
„Ja, ich weiß. Am Anfang ist es mir schwer gefallen, das zu verstehen. Ich muss die Dinge immer verstehen, damit ich sie akzeptieren kann. Ich fand ihn schwach, ich fand ihn feige. Doch letztlich… war es gar nicht wichtig, welche Entscheidung er für sich traf. Ich hatte die meine getroffen und die war ganz unabhängig davon. Ich hätte mit meinem Ehemann nicht mehr leben können. Oder wollen. Und schon gar nicht glücklich mit ihm sein können.“
„Haben Sie sich gewünscht, dass er zu Ihnen steht? Dass er Verantwortung übernimmt?“
„Wäre das nicht das Richtige gewesen, wenn es Liebe gewesen wäre?“
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“
„Mein Gott, ja, damals habe ich mir das gewünscht. Müssen wir das jetzt noch auseinander nehmen? Das ist doch alles lange her und längst vorbei!“
„Das ist Ihre Ehe auch“, antwortet die Ärztin sanft, „aber es lässt Sie bis heute nicht los. Und für Ihren Ex-Mann – wie heißt er eigentlich? – empfinden Sie sicherlich alles Mögliche, aber keine Liebe. Verstehen Sie? Sie leben nach einem ganz bestimmten Muster. Ein Muster, das nichts mit Ihrem Ex-Mann und auch nichts mit M. zu tun hat. Auch nichts mit Ihrem aktuellen Partner. Es liegt in Ihnen selbst. Sie sind auf der ständigen Suche nach Zuwendung, Nähe, Anerkennung. Das ist im Grunde nichts Schlechtes, im Gegenteil. Jedoch es wird vernichtend, weil Ihnen das schon verwehrt wurde, als Sie noch ein Kind waren, und es sich fortgesetzt hat in ihrer Ehe. Der Wunsch danach wurde zur Besessenheit und Sie stellen sich selbst sofort in Frage, wenn Sie nicht die Zuwendung bekommen, die Sie sich wünschen. Und das“, schließt die Ärztin, „ist der Kern unserer Arbeit. Wie können Sie von einem anderen Menschen erwarten, dass er sie bedingungslos liebt, wenn Sie es selbst nicht tun?“
„Mein Ex-Mann heißt D.“, antwortet sie nach einer Weile.
„Warum bin ich es nicht wert?“ flüstert sie. „Warum bin ich es nicht wert, dass man sich auch um mich kümmert? Darum, was ich mir wünsche? Darum, was für mich wichtig ist? Warum kann man kommen und gehen, nur weil jeder es für sich gerade so entschieden hat? Warum gibt es für das, was mir so wichtig ist, immer Argumente dagegen? Warum komme ich immer zuletzt?“
Eine Pause entsteht. Sie weint so lange, bis sie sich vollkommen leergeweint hat und ihr der Ausbruch beinah schon wieder peinlich erscheint.
„Kommen Sie jetzt ja nicht auf die Idee, mir Pillen aufzuschreiben. Ich werde keine einzige nehmen.“
Die Ärztin beugt sich vor, sie lächelt.
„Ich wüsste gar nicht, warum ich das tun sollte. Sie beginnen endlich, sich selbst wahrzunehmen, Ihre eigenen Bedürfnisse. Ich werde den Teufel tun, Sie daran zu hindern.“
„Und wie geht es jetzt weiter? Was fange ich mit all diesen Fragen an, auf die ich keine Antwort bekomme? Alle sind sie irgendwo, aber keiner ist hier. Nicht hier bei mir.“
„Der nächste Schritt wird sein, wie Sie selbst Ihr Leben füllen. Das liegt in Ihrer Verantwortung, in Ihrem Tun. Und auch nur Sie entscheiden darüber, ob und wer Sie dabei begleitet, wer an Ihrem Leben teilhaben darf. [...] „Wenn wir erreichen können, dass Sie wieder in das Leben zurückfinden, von dem Sie immer träumten, dann ist es genau das, worum es von Anfang an ging.““
Was, wenn sie feststellte, dass das Leben so bunt und süß war und sie ihn darin gar nicht mehr brauchte? Was, wenn sie feststellte, dass das Leben, das sie führten, gar nicht mehr das war, wovon sie geträumt hatte?
Sie versucht sich vorzustellen, wie das Leben ohne ihn wäre. Würde sich viel verändern, wenn er eines Tages nicht mehr käme? Würde sie nicht wie beinah jeden Morgen ohne ihn erwachen, ohne ihn den Kaffee trinken, in ihren Buchladen gehen, spazieren gehen, abends lesen, schreiben, malen, Musik hören? Würde sie nicht wie beinah jede Nacht ohne ihn einschlafen, irgendwann, die Laken zerwühlen und viel zu oft aus wirren Träumen erwachen? Wie oft kann sie nicht mit ihm sprechen, obwohl sie es gerade braucht? Wie oft kann sie ihn nicht berühren, obwohl ihr gerade so sehr danach ist?
Was also wäre anders, würde er eines Tages nicht mehr zu ihr kommen?
Sie blättert gedankenverloren in diesem Buch.Alles.
Alles würde anders.
Aufgeschnappt
Nein. Hass bedeutet eine Menge negative Energie, die ich nicht besitze.