Donnerstag, 23. Juli 2020

Stimmen

„Haben Sie später darüber gesprochen?“ Die Ärztin fragt ruhig, geduldig und ihr kommt unwillkürlich der Gedanke, ob die Ärztin im Privatleben auch so ruhig und geduldig sein mochte. Ob sie wohl Kinder hatte? Ob sie einen Mann hatte? Wie sie wohl sein mochte, wenn sie abends heimkam? Nur schwer vermag sie sich vorzustellen, wie ihre Ärztin sich in die Küche stellt und Fleisch brät.

„Ich habe ihn erst ein Jahr nach unserer Trennung wiedergesehen“, antwortet sie schließlich. „Und wir… wir haben nicht über uns gesprochen. Oder so. Er hat nicht gefragt, ich habe nichts gesagt. Er hat mir von einer anderen Frau erzählt.“ „Wie war das für Sie?“ „Ich weiß nicht“, sie zieht die Schultern noch, verharrt in dieser Position. „Ich wünschte ihm, dass er glücklich sei. Und mit mir… ging das ja ganz offensichtlich nicht.“ „Hat er Ihnen das gesagt?“ „Nein.“ Sie schaut zum ersten Mal der Ärztin in dieser Stunde klar und offen in die Augen. „Das musste er so nicht sagen. Er sagte, er sei glücklich. Er sagte, es gehe ihm gut. Und er sagte, er spüre mit dieser Frau endlich, was Liebe bedeutet.“
Sie schaut zum Birnbaum hinaus, ein Blick, den sie oft und gern verschenkt, wenn sie nachdenkt, wenn Erinnerungen erwachen und sie die rechte Zeit dafür bekommen möchte, diese zuzulassen. Sonnenschein gibt es heute keinen. Irgendwie trotzdem ein trostloser Anblick, denkt sie. Trostlos fühlt sie sich selbst jedoch nicht.
„Wie ging es Ihnen damit? Mit dieser Aussage?“
Sie antwortet nicht. Sie schaut noch immer auf diesen Birnbaum, doch vor ihren Augen hat sie das Bild, wie sie nebeneinander gesessen haben, auf dem Fußboden vor ihrem Sofa. Sie haben Tee getrunken und Kekse gegessen, über den mageren Körper hatte sie eine lange Strickjacke gezogen und die Haare zusammen gebunden. So wie er ihr Haar am liebsten mochte. Sie hat seinen Geruch geatmet, sie hat seinen Geruch geschmeckt und sie hat die Wärme seines Körpers an ihrem Arm gespürt. Wie vertraut er sich anfühlte, wie vertraut er schmeckte und wie vertraut seine Stimme klang nach diesem Jahr, in dem sie sich nicht sahen oder voneinander hörten.
Sie hat ihm zugehört, wenn er von der anderen Frau erzählte, sie hat ihm geantwortet, wenn er fragte.
„Warum haben Sie ihm nicht gesagt, was Sie für ihn noch immer fühlten?“
„Hätte es denn irgendeinen Sinn gemacht? Hätte es denn irgendetwas geändert?“
„Warum haben Sie ihn nicht gebeten zu schweigen? Sie hätten sich auch über andere Dinge unterhalten können.“
„Ja.“
Ja. Warum eigentlich nicht? Warum hat sie ihm zugehört, wie er von dieser anderen Frau erzählte und dabei wünschte, alles sei wie vor einem Jahr? Das kann sie nicht beantworten.
„Was ist dann passiert?“
„Nichts. Er ist gegangen, wir haben uns ganz normal verabschiedet.“
„Sonst ist nichts passiert?“
„Ich habe mir nicht die Arme aufgeschnitten oder sowas, falls Sie das denken. Ich habe mich anschließend nur fürchterlich übergeben. All den Tee, all die schönen Kekse. Ein Jammer.“
Einen Moment schweigen sie beide.
„Es ist ähnlich wie in Ihrer Ehe gewesen. Jemand verletzt Sie und Sie lassen es zu. Sie schauen zu und wehren sich nicht.“
„Es war nicht seine Schuld. Er wusste ja nicht, dass ich… dass ich ihn immer noch liebe.“
„Aber Sie wussten es. Und Sie haben nicht reagiert. So wie in Ihrer Ehe nicht. Sie mögen sich gegen die Verletzungen gewehrt haben, aber Sie haben nichts unternommen, dass es auch aufhört.“
„Ja. Ich weiß. Ich weiß, dass ich selber schuld bin.“
Die Ärztin beugt sich vor.
„Es geht hier nicht um Schuld“, antwortet sie eindringlich. „Es geht darum, dass Sie Verletzungen durch andere zulassen. Und wir müssen herausfinden, warum das so ist.“
„Ich bin müde. Darf ich jetzt gehen?“
„Wir haben gerade erst begonnen.“
„Ich bin trotzdem müde.“
„Malen Sie eigentlich immer noch?“
Überrascht schaut sie auf.
„Ja. Warum?“
„Wann haben Sie das letzte Mal gemalt? Und was?“
„Das Gesicht einer Frau. Die Hälfte ist verdeckt von ihren Haaren. Die andere Hälfte ist… groß, eigentlich… zu groß. Der Mund… Das Auge…“
„Sie haben sich selbst gezeichnet?“
„Ich weiß nicht“, sagt sie überrascht, „der Gedanke ist mir noch gar nicht gekommen.“
„Große Augen… Wissen Sie, Sie haben manches Mal so große Augen, als würden Sie erstaunt die Welt entdecken und erst jetzt feststellen, was es alles Schönes in ihr gibt. Dabei bin ich mir sicher, dass Sie um all dieses Schöne bereits wissen. Es ist nur… Vielleicht schauen Sie bewusster. Vielleicht nehmen Sie bewusster auf. Und je bewusster Sie aufnehmen, umso mehr lassen Sie es an sich heran.“
„Ich bin wirklich müde“, wiederholt sie nun, „ich muss jetzt wirklich unbedingt gehen.“
„Erlauben Sie mir, dass ich Sie später noch einmal anrufe?“
Sie zuckt die Schultern, unschlüssig.
„Gut. Dann… entlasse ich Sie für heute.“
Also geht sie, fährt sie heim, sie verkriecht sich in ihrem Bett, presst die Hände auf die Ohren, um den Stimmen zu entgehen, die die Erinnerung hervorgeholt hat.

***

Und nun sah er ihr zu und ihm fiel wieder ein, warum er sich in sie verliebt hatte, damals, vor wenigen Jahren.

Es war ihr Lachen.
Es war ihre Begeisterung, die ihn mitriss, die beinah kindliche Freude über die kleinen Dinge.
Es war diese Mischung aus Mädchen und Frau, diese wechselnden Rollen, die sie nicht spielte, die ihr nicht bewusst waren, diese Rollen, in denen sie ihm immer wieder begegnete und es ihm möglich machte,  sie immer wieder aufs Neue zu entdecken. Bei all den Sorgen und Problemen jedoch, gegen die sie beinah täglich ankämpften, hatte er fast dieses Mädchen in ihr vergessen. Sein Mädchen. Er ist froh, dass er diesen Tag mit ihr teilen konnte. Sie ist dankbar, dass er bei ihr ist.

Als sie spätabends die Galerie verlassen, zieht sie die Schuhe aus, läuft barfuss zum Auto und wirft sich in den Sitz. “Würden Sie mich nach Hause fahren, junger Mann?” “Tut mir leid, das geht nicht. Meine Frau kommt gleich. Meine wunderschöne Frau. Sie würden Sie mögen.” Sie schaut ihn an, dann lacht sie unvermittelt und hebt die Arme, um ihn zu umarmen.

7 Kommentare:

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Ich habe ja vor kurzem sehr viele Hörbücher von Lucinda Riley gehört, unter anderem die sieben Schwestern, wo 6 von ihnen jeweils ein eigenes Buch bekamen.
Wenn ich das von dir hier lese, könnte es dort hinein passen.
Danke!

Juna hat gesagt…

Schöner Text, doch gerade etwas ratlos, wie ich ihn auffassen mag/kann... :-*

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Als einen Auszug aus (m)einem Leben, Juna. Mehr dazu woanders ;)

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Die muss ich erst noch googeln, Clara, hab noch nie von ihr gehört :)
Und juhuuuu - Kommentieren via Handy geht es wieder 🥳

Studio Glumm hat gesagt…

Wie zum Henker soll man sich dagegen wehren, wenn man jd. immer noch liebt.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Kann man nicht, muss man nicht. Ich konnte es nicht und kanns nicht. Aber wenn man es akzeptiert und damit lernt umzugehen, geht es eigentlich gut. Vor allem, wenn man akzeptiert hat, dass alles seine Zeit und seinen Platz hat.
Nicht jeder, der sich liebt, gehört auch zusammen.

Studio Glumm hat gesagt…

Ja, das ist wohl so.