Mittwoch, 22. Juli 2020

Die Last der Erinnerung



Dieser Titel hier.. Das war sozusagen Liebe auf den zweiten Blick. Ein Zufallsfund der letzten Nacht, wirklich reingehört aber habe ich erst heute im Lauf des Tages - und vor allem auf dem Weg ins Büro. Und jetzt kann ich nicht mehr damit aufhören..


Aus "Endlich!" von Ildiko von Kürthy


Zum Buch selbst gibt es eigentlich nicht viel zu sagen. Eigentlich eins wie das andere: Ihre Protagonistin ist immer etwa in der Mitte ihres Lebens, entweder Single oder auf dem Weg dahin mit den üblichen Aufregern um die Bauch-Beine-Po-Fraktion, die Bequemlichkeit der - wenn vorhanden - eingefahrenen Beziehung, und nebenher immer noch mit kleinen Seitenhieben auf die Welt des vermeintlichen Glamours. 
Aber es gibt einige wenige Dinge in diesem Buch, die etwas in mir in Bewegung brachten. 
Der Segen des Vergessens.
Die Wunden, die nicht heilen, weil sie nicht vergessen werden können.

Ich hatte es mir schon länger vorgenommen, doch erst heute habe ich jemanden angesprochen, und dieses miteinander sprechen fühlte sich wie eine Ergänzung des Ganzen an. Sie sagte zu mir, dass sie in den vergangenen Tagen zum ersten Mal den Mann an meiner Seite gesehen hätte, in meinem Handystatus - und dass sie ganz verwundert gewesen war, weil wir irgendwie nichts miteinander gemein hätten. 
"Es gibt nichts, worin ihr euch gleicht, die Wangen nicht, der Mund nicht, die Augen nicht, die ganze Gesichtsform  nicht."
"Du meinst, wir passen nicht?" amüsierte ich mich.
Sie lächelte.
"Eigentlich nicht, nein. Man muss etwas gemeinsam haben."

Eigentlich passen wir ja auch nicht. Er ist der Rationale, bei dem immer derselbe Mechanismus einsetzt: Was ist das Problem und wie löse ich es ? Er denkt nicht nur lösungsorientiert, er handelt auch so. Ausschließlich alles wird auf Problemlösung fokussiert. Emotionen spielen - wenn überhaupt - in dem Moment nur eine untergeordnete Rolle. Schlimmstenfalls werden sie zur Seite geschoben, sofern sie ihm hinderlich werden könnten. 
Als wir uns zum ersten Mal begegneten, trafen zwei verschiedene Welten aufeinander.
Er, der Realist, der Macher, der seinen Weg fokussiert und straight vorangeht.
Ich, der Träumer, der zwar auch macht, aber der seinen Weg summend entlangschlendert, hier und da eine Blume pflückt, sich auch mal ins Mohnblumenfeld legt und Steinchen zur Seite schiebt, die im Rücken pieken. 
"Ich kann auch genießen", sagt er und ich weiß, dass er es kann. "Aber ich kann es erst, wenn alles perfekt ist." Diesem Anspruch unterlag ich nie. Ich fühle mich nicht getrieben, alles jetzt und sofort umzusetzen, jeden Augenblick zu optimieren und aus allem immer nur das Allerbeste herauszuholen. 
Insofern.. waren unsere ersten Jahre keine glücklichen, keine unbeschwerten Jahre. Wir haben nur den Moment gelebt, bis wir uns wieder voneinander trennten und zurückließen. Bis wir uns anderen Begegnungen, anderen Menschen überließen und trotzdem nie zur Ruhe fanden...

Noch heute ist ihr dieser Moment gegenwärtig, als er sich zu ihr beugte und auf die Wange küsste und sie spürte: Er ist anders, er ist… besonders.

„Du Augenmensch“, hatte U. später gelacht und den Kopf geschüttelt.

Sie hatte mitgelacht und nicht geantwortet. Darauf zu antworten, käme ihr gleich, als habe sie ihn oder sich selbst zu verteidigen – es gab aber nichts zu verteidigen.

Ob es sein Lächeln war, ob es sein Geruch war, ob es sein offener Blick war oder einfach nur das Gefühl, dass sie in ihm etwas von sich wiederfand, das vermag sie bis heute nicht zu sagen. Sie weiß nur, dass jene Faszination noch immer in ihr lebt, mit jeder seiner Rückkehr vom Meer, wenn er im Badezimmer steht und sich den Bart abschabt und sie seinen leicht gebeugten Rücken betrachtet, während sie auf dem Wannenrand sitzt und ihm zusieht, um nicht einen einzigen dieser kostbaren Momente zu verschenken, in denen sie zusammen sein können.

Sie liebt es, seine Hemden auf ihrer nackten Haut zu spüren, seine Shorts zu tragen, ihre Musik zu hören, während sie Obst zerschneidet und darauf wartet, dass er mit dem Hund vom Lauf zurückkehrt.

Es gibt so viele Dinge, an die ich mich erinnere. Manchmal mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks, ganz gleich, wie lange her etwas auch gewesen sein mag. Doch wenn ich in eigenen alten Aufzeichnungen lese, dann erst wird mir bewusst, wie vieles.. mit der Zeit tatsächlich in Vergessenheit geraten ist. Wie vieles tatsächlich nicht mehr gegenwärtig ist..

„Dieser andere Mensch, wir sollten ihm einen Namen geben, oder auch Ihr jetziger Partner – glauben Sie ihnen heute nicht mehr?“

„Er heißt M.“ entgegnet sie gedankenverloren.

„Okay, M. Ihm und Ihrem Partner glauben Sie also nicht mehr?“

„Ich weiß nicht. Was M. denkt oder fühlt“, sie richtet den Blick wieder auf ihre Ärztin, „weiß ich nicht und es ist auch nicht mehr wichtig für mich. Er hat sich für sein altes Leben entschieden, ich mich für einen anderen Weg. Das wars. Er hat es sich eben einfach gemacht.“

„Zu bleiben… ist nicht immer der einfachste Weg. Und das wissen Sie.“

„Ja, ich weiß. Am Anfang ist es mir schwer gefallen, das zu verstehen. Ich muss die Dinge immer verstehen, damit ich sie akzeptieren kann. Ich fand ihn schwach, ich fand ihn feige. Doch letztlich… war es gar nicht wichtig, welche Entscheidung er für sich traf. Ich hatte die meine getroffen und die war ganz unabhängig davon. Ich hätte mit meinem Ehemann nicht mehr leben können. Oder wollen. Und schon gar nicht glücklich mit ihm sein können.“

„Haben Sie sich gewünscht, dass er zu Ihnen steht? Dass er Verantwortung übernimmt?“

„Wäre das nicht das Richtige gewesen, wenn es Liebe gewesen wäre?“

„Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“

„Mein Gott, ja, damals habe ich mir das gewünscht. Müssen wir das jetzt noch auseinander nehmen? Das ist doch alles lange her und längst vorbei!“

„Das ist Ihre Ehe auch“, antwortet die Ärztin sanft, „aber es lässt Sie bis heute nicht los. Und für Ihren Ex-Mann – wie heißt er eigentlich? – empfinden Sie sicherlich alles Mögliche, aber keine Liebe. Verstehen Sie? Sie leben nach einem ganz bestimmten Muster. Ein Muster, das nichts mit Ihrem Ex-Mann und auch nichts mit M. zu tun hat. Auch nichts mit Ihrem aktuellen Partner. Es liegt in Ihnen selbst. Sie sind auf der ständigen Suche nach Zuwendung, Nähe, Anerkennung. Das ist im Grunde nichts Schlechtes, im Gegenteil. Jedoch es wird vernichtend, weil Ihnen das schon verwehrt wurde, als Sie noch ein Kind waren, und es sich fortgesetzt hat in ihrer Ehe. Der Wunsch danach wurde zur Besessenheit und Sie stellen sich selbst sofort in Frage, wenn Sie nicht die Zuwendung bekommen, die Sie sich wünschen. Und das“, schließt die Ärztin, „ist der Kern unserer Arbeit. Wie können Sie von einem anderen Menschen erwarten, dass er sie bedingungslos liebt, wenn Sie es selbst nicht tun?“

„Mein Ex-Mann heißt D.“, antwortet sie nach einer Weile.

Ich schaue auf die alten Aufzeichnungen, finde mich darin wieder und irgendwie doch nicht mehr. Es ist so lange her, dass ich beinah glauben könnte, in den Aufzeichnungen eines anderen Menschen zu blättern, nur nicht in meinem eigenen vergangenen Leben. Und ich weiß nicht einmal, ob ich diese Schriften weiter fortsetzen könnte. Es ist nicht nur, dass soviel Zeit vergangen ist. Es ist nicht nur, dass ich tatsächlich vieles im Gestern zurückgelassen habe. Es ist vor allem, dass ich selbst in dieser Zeit weitergekommen bin, viel, viel weiter. 
Jetzt nach all der Zeit an die alten Aufzeichnungen anzuknüpfen, würde einfach nicht mehr passen.. 

„Warum bin ich es nicht wert?“ flüstert sie. „Warum bin ich es nicht wert, dass man sich auch um mich kümmert? Darum, was ich mir wünsche? Darum, was für mich wichtig ist? Warum kann man kommen und gehen, nur weil jeder es für sich gerade so entschieden hat? Warum gibt es für das, was mir so wichtig ist, immer Argumente dagegen? Warum komme ich immer zuletzt?“
Eine Pause entsteht. Sie weint so lange, bis sie sich vollkommen leergeweint hat und ihr der Ausbruch beinah schon wieder peinlich erscheint.
„Kommen Sie jetzt ja nicht auf die Idee, mir Pillen aufzuschreiben. Ich werde keine einzige nehmen.“
Die Ärztin beugt sich vor, sie lächelt.
„Ich wüsste gar nicht, warum ich das tun sollte. Sie beginnen endlich, sich selbst wahrzunehmen, Ihre eigenen Bedürfnisse. Ich werde den Teufel tun, Sie daran zu hindern.“
„Und wie geht es jetzt weiter? Was fange ich mit all diesen Fragen an, auf die ich keine Antwort bekomme? Alle sind sie irgendwo, aber keiner ist hier. Nicht hier bei mir.“
„Der nächste Schritt wird sein, wie Sie selbst Ihr Leben füllen. Das liegt in Ihrer Verantwortung, in Ihrem Tun. Und auch nur Sie entscheiden darüber, ob und wer Sie dabei begleitet, wer an Ihrem Leben teilhaben darf. [...] „Wenn wir erreichen können, dass Sie wieder in das Leben zurückfinden, von dem Sie immer träumten, dann ist es genau das, worum es von Anfang an ging.“
**
Was, wenn sie feststellte, dass das Leben so bunt und süß war und sie ihn darin gar nicht mehr brauchte? Was, wenn sie feststellte, dass das Leben, das sie führten, gar nicht mehr das war, wovon sie geträumt hatte?
**

Sie versucht sich vorzustellen, wie das Leben ohne ihn wäre. Würde sich viel verändern, wenn er eines Tages nicht mehr käme? Würde sie nicht wie beinah jeden Morgen ohne ihn erwachen, ohne ihn den Kaffee trinken, in ihren Buchladen gehen, spazieren gehen, abends lesen, schreiben, malen, Musik hören? Würde sie nicht wie beinah jede Nacht ohne ihn einschlafen, irgendwann, die Laken zerwühlen und viel zu oft aus wirren Träumen erwachen? Wie oft kann sie nicht mit ihm sprechen, obwohl sie es gerade braucht? Wie oft kann sie ihn nicht berühren, obwohl ihr gerade so sehr danach ist?
Was also wäre anders, würde er eines Tages nicht mehr zu ihr kommen?
Sie blättert gedankenverloren in diesem Buch.

Alles.

Alles würde anders. 

Ich bin dankbar um den Segen des Vergessens.  

6 Kommentare:

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Erinnerung ist bei mir sehr oft eher eine Belastung als eine Freude - ich kann mich an sehr viele äußerst verletzende, beängstigende oder negative Sachen erinnern - bei den positiven hapert es allerdings eher. Ob das etwa daran liegt, dass mit bestimmten Kreisen die positiven tatsächlich in der Minderzahl sind?
Für dich im Hier und Jetzt eine schöne Zeit - die wünsche ich dir und euch!!!!!

Anonym hat gesagt…

Liebe auf das erste hören ��
Danke für einen weiteren Titel der " Ziggenheimer
Playlist " �� LG Petra

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Es heißt, mit der Zeit würde man sich nur noch an die guten Dinge erinnern.
Prinzipiell gehts mir wohl auch so. Nur die Erinnerung an die Ehe ist nur mit Negativem verbunden. Es gab sicherlich auch andere Momente, aber ich kann mich daran einfach nicht erinnern.
Danke Clara 😘

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Immer wieder gern, Petra 😁😁😁

Lutz hat gesagt…

Zum Thema "zueinander passen".

Menschen passen nicht so gut zueinander, wenn sie sich charakterlich zu sehr gleichen. Es passt besser, wenn sie sich ergänzen, weil sie unterschiedlich sind. Mit der notwendigen gegenseitigen Toleranz, nicht immer nur seine eigene Meinung durchsetzen zu wollen, sondern auch die andere zu akzeptieren, hat man dann Optionen zum Handeln, je nach konkreter Situation. Abgesehen davon, dass es ohnehin produktiver, auch für einen selbst, ist, wenn man mit einer anderen Sichtweise konfrontiert ist. Eine sachliche Diskussion darüber kann neue Horizonte eröffnen. Bei gleichen Standpunkten kann sich auch nichts nach vorn entwickeln. Logisch.

Von daher: Unterschiedliche Charaktere sind gut. Und Äußerlichkeiten haben damit ohnehin nichts zu tun.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Lieber Lutz, ich sehe das ziemlich genauso: Je ähnlicher man sich ist, desto ermüdender und langweiliger wird es auf Dauer. Gerade weil der andere Blickwinkel fehlt.