Mittwoch, 1. Juli 2020

give me your love


"Selbst wenn wir allein sind, 
werden wir von den Menschen bewohnt, 
die uns gemacht haben."
(Paul Auster)


In mir mischen sich Eigenschaften meiner Mama, Eigenschaften meines Papas. Als ich von zu Hause auszog und heiratete, war ich Anfang zwanzig und dennoch vollkommen kindlich, den Kopf voller Träume und Wünsche an das Leben, die Seele voller romantischer Vorstellungen, die mit der Realität so gar nichts gemein hatten und in den folgenden Jahren fast vollständig erstickten. Ich wusste nicht, wie man ein Essen zubereitet, wie man ein Kind erzieht, ich wusste nicht, wie man eine Ehe führt und was von mir erwartet wurde - und der Lernprozess war sehr, sehr schmerzhaft. Eingezwängt in die Vorstellungen anderer habe ich das Leben geführt, das nicht mein Leben war. 
Noch heute erinnere ich mich an eine E-Mail vor siebzehn Jahren, als ich endlich, endlich den Schritt nach außen gewagt, den Sprung gewagt hatte: "Mir scheint, du bist jemand, der gar nicht er selber ist. Du hast dir eine zweite Haut so sehr übergestülpt, dass du glaubst, es sei deine eigene." Ich wusste, was er meinte. Aber damals wusste ich noch nicht, wie sehr recht er hatte. 
Zum allerersten Mal an mich selbst erinnert fühlte ich mich in der Begegnung 2002. Eine Begegnung, die ich gar nicht wollte, über die ich gar nicht nachdachte, und die sich doch mit einer solch wiederkehrenden Beharrlichkeit in mein Leben mischte wie zwei Farben, die ineinanderfließen, mehr und mehr. Und du schaust fasziniert darauf, wie sich das Rot in das Weiß mischt, mehr und mehr, und irgendwann nimmst du den Pinsel in die Hand und verteilst das ganze Rot in dem Weiß, in immer größeren kreisenden und doch zärtlichen Bewegungen... Es war wie ein Erwachen. Zaghaft, aber nachhaltig.

Give Me (your) Love.
Ich war über dreißig, als ich lernte, was ein Milchkaffee ist. Als ich lernte, was Antipasti und Tapas und Fingerfood sind. Wie wunderschön die Stadt war, vor deren Toren ich lebte. Ich entdeckte, wie viel Sehnsucht ich hatte, Sehnsucht nach einem erfüllten, fröhlichen Leben, in dem ich das, was zu tun war, mit Herzblut tun würde. Mit Liebe. Mit Geduld. Mit der Entspanntheit, mit der nur Menschen leben können, die in sich ruhen. Die um sich selbst wissen und sich nicht darum kümmern, wem sie in den Kram passen und wem nicht. Die wissen, dass sie nicht in jedermanns Kram passen müssen - und trotzdem nicht weniger wert sind. 

Grad klopft mir wahnsinnig das Herz, bis hoch in den Hals kann ich jeden einzelnen Schlag spüren..

Man sagt immer, man soll nicht zurückschauen, man soll sich auf das Heute fokussieren und nach vorn schauen, nach dem Morgen. Ich selbst, und das hab ich sicherlich schon öfter geschrieben, schaue aber ganz gerne mal zurück. Manchmal mit Wehmut, manchmal mit Demut, manchmal mit Scham - und ganz oft mit Erleichterung. Erleichterung darüber, dass das Leben von heute ein ganz anderes Leben ist als früher. Ich bereue nicht die Begegnungen, die ich zugelassen habe - auch wenn ich einiges heute anders machen wollen würde. Wenn ich jede Begegnung zu einem Ziegelstein metaphern würde, dann ist jeder einzelne Stein irgendwie notwendig gewesen, um mich wieder neu zu errichten. Den Putz abzuklopfen, der verbirgt, wer ich wirklich bin. Ich habe aber auch gelernt, dass nicht jeder Ziegelstein dafür gemacht ist, für immer an seinem Platz zu bleiben. Manchmal füllt sich eine Lücke und man ruckelt an den Steinen herum und spürt, dass irgendwo etwas nicht passt. Und du schaust dich um, nimmst wahr, begutachtest, setzt ein, prüfst, nimmst ihn heraus und suchst nach einem anderen, den du einsetzen kannst.. Und mit der Zeit lernst du mehr und mehr Achtsamkeit. Achtsamkeit, die dir verbietet, gedankenlos einen Stein zu entfernen und durch einen anderen zu ersetzen. Manchmal fällt dir auch einer vor die Füße, den du bis dahin so gar nicht wahrgenommen hattest. Aber du siehst ihn, hebst ihn auf und fügst ihn in die Lücke ein. Und siehe da.. er passt. 

Heute, denke ich, bin ich mehr denn je ich selbst. Dabei werte ich nicht zwischen positiv und negativ. Ich werte lediglich, dass ich mit dem zuletzt eingefügten Stein zum allerersten Mal das Gefühl habe, wirklich auch bei mir selber angekommen zu sein. In mir ruhen zu können. Nicht mehr von unerfüllter Sehnsucht zerrissen und gequält zu sein. Nachts nicht mehr ruhlos durch das dunkle Zimmer auf und ab zu wandern, aus dem Fenster zu schauen, weil du fühlst, da ist jemand und da ist doch niemand. 
Und manchmal, manchmal in Nächten, in denen du wach und aufmerksam in die Welt schaust, da befühlst du dein eigenes Mauerwerk, tastest mit den Fingerkuppen zart über jeden einzelnen Stein, jede einzelne Kante und du erinnerst dich an alles, an wirklich alles, was du mit jeder Begegnung gelernt hast. Was dir jeder einzelne Ziegelstein mitgegeben hat. Denn auch wenn der eine oder andere Stein nicht mehr an seinem Platz ist, so hast du nichts von dem vergessen, das er dir mitgegeben hat. Nichts von dem, das dich geformt hat. Das dein Mauerwerk geformt hat. Dein Mauerwerk, mit dem du dich heute stark, stolz und trotzig dem salzigen Wind entgegenstellst. 

1 Kommentar:

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Liebe Helma, ich kenne ja nur das, was du uns hier im Laufe der Jahre erzählt hast, woran du uns hast teilnehmen lassen.
Und so, wie ich dich kennen gelernt habe, möchte ich sagen, dass das Schicksal es gut mit dir gemeint hat, dass es dich und Herrn Blau (der aktuelle Name ist wohl anders, habe ich aber vergessen) in ein gemeinsames Leben geführt hat - auch wenn er die Berge liebt und du das Meer mehr magst - und eine gemeinsame Wohnung und ein gemeinsames breites Bett sind die Belohnung für dich und dein ehemals so anstrengendes Leben.
Drücks!