Donnerstag, 2. Juli 2020

Was war das letzte Nacht?


Es heißt immer, wenn sich jemand nicht meldet, dann ginge es ihm gut. Meiner Erfahrung nach stimmt das so überhaupt nicht. Wenn es still um jemanden wird, kann es auch etwas ganz anderes bedeuten.

Mir ging so vieles durch den Kopf dieser Tage. Einiges, das mich selbst betrifft, anderes, das mich nicht betrifft und trotzdem berührt. "Hast du nicht genug eigenes?" fragt manchmal der Mann. Und dann fügt er hinzu "Dir hilft doch auch niemand." 
Erstens - finde ich - stimmt das nicht. Es stimmt nicht, dass mir niemand hilft. Allein wenn dir nur mal jemand zuhört, kann das ungemein helfen. Und selbst wenn es keine Sofortlösung gibt - allein das Wissen darum, dass dir jemand helfen will und das auch ehrlich so meint, allein das hilft erstmal ein ganzes Stück weiter. 
Und zweitens ist es so, dass mich Menschen interessieren. Dass mich ihr Schicksal interessiert, einmal mehr dann, wenn ich sie kenne. 

Den gestrigen Abend haben wir in unserer Lieblingslokalität zugebracht. Coronaauflagenbedingt stehen weniger Tische zur Verfügung, hängen Plexiglasscheiben von der Decke, bedienen uns die Kellner mit Mundschutz, den wir selbst abnehmen dürfen, sobald wir uns auf unserem Platz niedergelassen haben. Ich liebe dieses Lokal, ich bin sehr gerne dort und ich bin froh, dass die "halbe" Schließung der letzten Wochen sie finanziell nicht in die Knie gezwungen hat. Höre mir geduldig an, wie schwierig es ist, einen ganzen Tag lang mit der Maske bedienen zu müssen. Wie schwierig es mit dem Atmen wird nach einiger Zeit, vor allem dann, wenn man eine Raucherpause eingelegt hatte.
"Dann rauch halt nicht", wäre ich versucht zu sagen, aber das kann vermutlich auch nur ein Nichtraucher so leichtfertig über die Lippen bringen. 

In manchen Städten gehen die Menschen auf die Straße, demonstrieren für ihr Recht auf Freiheit und gegen das vermeintliche Austesten der Regierung, mit welchen Mitteln sie wieviel erreichen kann. 
Es vergeht kein Tag, an dem man nicht medial diesem Thema ausgesetzt ist - und irgendwann fragt man sich, ob da etwas dran ist an dem stetig wiederkehrenden Misstrauen: "Wenn die Menschen mit einem Thema beschäftigt sind, übersehen sie das, was inzwischen neu geregelt wird."
In den letzten Wochen habe ich beispielsweise öfter über die Neuregelung des Intensivpflegegesetzes gelesen. Habe meine Stimme gegeben gegen diesen neuen Gesetzesentwurf, der vorsieht, dass beatmungspflichtige Menschen nicht mehr zu Hause gepflegt werden sollen. Schwarze Schafe, Finanzmittelmissbrauch und so, da muss man doch was dagegen tun. Immerhin belaufen sich die Kosten je Patient auf etwa 25.000,00 Euro im Monat - man kann ja der Solidargemeinschaft gar nicht zumuten, den ganzen Umfang mitzutragen.
Ah ja. Genau. Weil das in Pflegeheimen anders ist? Weil dort alle Schäfchen blütenweiß sind?
Und wie war das nochmal mit dem Pflegenotstand? 
Und wie war das nochmal mit dem Bonus von 1.500 Euro, den die Pfleger bekommen sollten? Versprochen, ohne zu regeln, wer das eigentlich bezahlt... Und sich jetzt drum streiten. Das ist so armselig, da würde man am liebsten sagen: "Steckt euch den Bonus doch sonstwohin."
Das kann aber auch nur leichtfertig sagen, wer eben kein Pfleger ist. 
CDU und SPD - der eine nennt sich christlich, der andere sozial. Und beide - und nur die beiden - wollen eine Gesetzesänderung durchbringen, die weder christlich, geschweige denn sozial ist. Denn wo bitte gibt es hier noch eine Entscheidungsmöglichkeit für denPatienten, ob er lieber daheim von seiner Familie  gepflegt werden möchte, wenn diese Entscheidung daran geknüpft ist, ob er dann auch monatlich zwischen 2.000 und 6.000 Euro dafür bezahlen kann? 
Ich hatte mich an der Petition beteiligt und war begeistert, wie viele mitgemacht haben. Wie viele Sturm gelaufen sind. Aber ich muss zugeben, mit der Zeit wurde ich auch ob der Entwicklungen mutlos. Schlichen sich Zweifel ein, ob die Summe der Menschen wirklich etwas bewirken kann - oder ob doch alles geschieht wie vorgesehen.
Heute Morgen, als ich mir ein Käffchen zubereitete und währenddessen hinaus in den Regen schaute, der gleichmütig von der Fensterscheibe perlte, da dachte ich... "Ich kann es mir leisten, mutlos zu werden. Ich kann es mir leisten, einen entsprechenden Zeitungsartikel zur Seite zu legen, weil ich nicht betroffen bin." Noch nicht. Man weiß nie, was kommt. Aber soll man nur Anteil nehmen und sich nur dann einsetzen, wenn man selbst betroffen ist? Wo bleibt der immense mediale Aufschrei, der vielleicht den letzten nötigen Druck auf die CDU als Vorantreiber dieses Entwurfes ausüben könnte? Kommt der nicht, weil jetzt alle mit der Coronakacke beschäftigt sind? Oder sein wollen?

Letzte Nacht, der Mann hatte sich längst schlafen gelegt, da las ich mich durch die Weiten des Netzes, hörte Musik, schrieb. Um eine ist es ruhig geworden. Ihr Blog ruht, ihr soziales Netzwerk ruht. Allein ihr Whatsapp-Status meldete: Sie ist noch da. Es war schon nach Mitternacht, als ich ihr schrieb und fragte, ob sie okay sei.
Was darauf folgte, brachte mich dazu, mir morgens 3 Uhr noch einen Kaffee zu kochen, mich lang auf das Sofa auszustrecken und in die Nacht hineinzuschauen. Es ist sehr schwer, einen Menschen weinen zu hören, so ganz tief von innen heraus von einem Schmerz überwältigt, und man kann nichts tun. 
Gegen das grenzenlose Gefühl von Einsamkeit eines Menschen kannst du nichts tun, nicht wirklich etwas tun, wenn du hunderte Kilometer weit weg wohnst. Nicht die Flasche Weißwein in die Hand nehmen und zu jemandem gehen kannst. Die Problematik ist sicherlich nicht coronabedingt. Meinem Gefühl nach aber offenbart der Lockdown etwas, das da ist, da war, und das man nicht sehen wollte oder nicht sehen musste, weil man sich mit anderen Dingen beschäftigen konnte. Andere Dinge, die mit dem Lockdown wegfielen und gerade die Menschen, die niemanden haben, in die Einsamkeit verdammten. 
Wir beklagen uns über Mundschutz, über monatelangen Schulausfall und Kita-Schließungen, während die Kinder nachmittags trotzdem zusammen spielen. Geht ja auch dort, wo es keine gesperrten Spielplätze gibt. Wir wissen von der Einsamkeit der Menschen in den Pflegeheimen, die ihre Angehörigen nicht mehr sehen durften. Wir wissen irgendwie auch, dass es Menschen gibt, die allein in ihrem Zuhause leben. Aber denkt man wirklich darüber nach, was das im Einzelnen bedeutet? Bedeuten kann? Wir hinterfragen die Sinnhaftigkeit von Entscheidungen, die einander widersprechen und weil wir uns in unseren persönlichen Freiheiten beschränkt fühlen.
Aber.. Wie gut geht es uns allen, die nicht allein in einem Haushalt leben? Die wenigstens ihre Kinder bei sich haben und/ oder einen Partner? Ihren Job, ihr Einkommen? 
Gerade ich.. Ich hatte das Glück, keine finanziellen Einbußen zu erleben. Ich hatte das Glück, den Job fortsetzen zu können - auch wenn ich dafür fast drei Monate nicht nach L tingeln und meine Jungen sehen konnte. Aber es ging mir gut. Ich hatte es gut. Wie oft habe ich innerlich gedacht "Bin ICH froh, dass meine Jungen erwachsen sind und ich mich nicht fragen muss, wie ich das mit Schule, Betreuung und überhaupt geregelt bekomme." Und vielleicht schmunzelt man hier oder da, wenn einer stöhnt: "Boar ey, ich dreh bald durch."
Man hört so Worte wie "Wenn du Kinder hast, dann kümmer dich doch auch und jammer nicht."
Natürlich bekommt man nicht seine Kinder, um sie anschließend in die Vollzeit-Kita zu bringen und von fremden Menschen  mehr oder weniger erziehen zu lassen.
Aber ohne Einkommen funktioniert das Leben mit Kind/ern auch nicht. Und macht man sich da wirklich mal Gedanken um die Belastung der Eltern, die ihren Job mit erwarteter Kraft fortsetzen sollen, nun aber auch den Part der Schule mit übernehmen und die Ganztagsbespaßung der Kinder?

Ich lese von "Risikopatienten", die sich ausgegrenzt fühlen, wenn man sagt "Sollen sie sich doch schützen, da muss ja nicht gleich ein ganzes Land in Quarantäne geschickt werden."
Ich lese von Risikopatienten, die genauso Wünsche, Träume und Hoffnungen haben wie wir alle. Bekomme einen tieferen Einblick in das Leben eines Menschen, dem es nicht so gut geht wie dir und mir. Was es konkret bedeutet, ein "Risikopatient" zu sein. Bekomme ein neues, anderes Verständnis für eine Situation, die ich als Außenstehender bislang auch eher nur von außen betrachtet hatte. 
Ich bin schon immer noch im Zweifel darüber, wieviel Quarantäne tatsächlich notwendig war - und warum wir diese jetzt mit Covid19 erlebten und nicht schon zu anderen Jahren, in denen Tausende Menschen gestorben sind. Ob das Ausmaß tatsächlich so notwendig war - und warum so viele Menschen hysterisch reagieren, wenn man vermeintlich zu nah herangerückt ist oder die Maske nicht richtig trägt. Der Mann sagt oft "Es ist ein Mund-UND-Nasen-Schutz, geht aber an vielen vorbei, wenn ich mich so umsehe." 
Vielleicht hat man das früher nicht gemacht, weil man diese Quarantäne tatsächlich gar nicht finanzieren könnte? Stellen wir uns vor, wir hätten mit jeder Grippeepidemie eine landesweite Quarantäne, was würde dann? Was würde mit unserer Wirtschaft und mit der Leistungskraft von Bund, Ländern, Krankenkassen? Wieviel ist ein Leben wert? Wieviel zählt der Mensch tatsächlich? 
Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen: Nichts. Auf einen Patienten, der dauerhaft erkrankt und nicht dauerhaft leistungsfähig ist, wird - Entschuldigung - geschissen. Du zählst nicht, weil du nur belastest, nur kostest, aber nichts in die vermeintliche Solidargemeinschaft einbringst. 
Warum haben wir von etwa 22.000 oder 25.000 Grippetoten aus der Wintersaison 17/18 nur erfahren, wenn man es googelt oder beim RKI nachliest? Und warum darf ich die einen nicht mit den anderen vergleichen? Wo wir doch von Covid19 sowieso noch keine Ahnung, Entschuldigung, Erfahrung hatten? 
Aber unterm Strich... Wir alle, die sich für jung - stark - gesund halten und bei denen die vermutete Wahrscheinlichkeit, schwer zu erkranken, gering eingeschätzt wird - wir können es uns leisten, über Mundschutz und Lockdown zu meckern, zu schimpfen, zu jammern über Beschränkungen unserer Freiheit. Und ohne darüber nachzudenken, wie sich das Ganze eigentlich anfühlt für diejenigen, die sich ohnehin schon benachteiligt fühlen - und das ganz offensichtlich zu Recht. 

Ja, ich weiß, das ist thematisch vielleicht ein etwas schwererer Rucksack zum Donnerstagmittag. Jetzt, wo der Sommer kommt und man vor allem eines wünscht: wieder mehr Leichtigkeit - im Umgang, im Leben, im Miteinander. Und wo das Wochenende kommt, wo man dem süßen Leben einmal mehr frönen will und darf und soll.
Doch diese und andere Gedanken ließen mich letzte Nacht nicht schlafen. 
Es war gegen halb fünf, als ich mich zwang, eher der Vernunft willen. Es war gegen halb fünf, als ich mich neben den Mann legte und dachte, wie froh ich bin, hier liegen zu können. Zu dürfen. Aus eigener Entscheidung heraus, ohne fremdbestimmt zu sein. Wir wissen gar nicht, wie gut es uns geht, bis man es uns genommen hat. 

1 Kommentar:

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Nur das:
https://chh150845.files.wordpress.com/2014/10/3110-herz.jpg
damit du wenigstens gut schläfst, wenn du erst so früh ins Bett gehst.
Morgen mehr - bei mir!