Montag, 19. November 2018

Nur einen Moment


In einem anderen Blog lese ich heute (nicht zum ersten Mal) über Diagnosen, die alles verändern. Das Leben des Betroffenen und das Leben der Menschen rings um ihn herum.
Er schreibt über sein Unverständnis, dass für die Menschen um den Betroffenen herum alles weiterzugehen scheint wie bisher.
Er schreibt über seine Gedanken, wie der Betroffene oft allein hinaus in die Welt geht.
Er schreibt über sein aktives Handeln, heimlich auf dem Telefon des Betroffenen eine App zu installieren, die es ermöglicht, den Betroffenen jederzeit wiederzufinden, sollte ihm irgendetwas zustoßen...

Ich habe seither noch nicht wieder nachgelesen, was Leser kommentieren. Ich kenne nur den allerersten Kommentar.
Und ich habe mir seither meine eigenen Gedanken gemacht.
Ist es wirklich eine freakige Form der Kontrollsucht? Oder ist es vielmehr nicht eher die Sorge, die Fürsorge, die einen treibt? Wer würde sich nicht sorgen um einen ihm nahestehenden Menschen, der die Stille und den Freiraum sucht und braucht und auch bekommt - man jedoch im Zweifel in der Lage sein möchte, ihn auch wiederzufinden, wenn er in nur einem einzigen Moment zu Boden fällt?
Ich lese von Selbstbestimmung, von dem Gefühl, immer noch selbstbestimmt leben zu können - ohne die ständige Sorge im Gesicht der anderen - und ich kann das verstehen.
Ich kann jedoch eben auch.. verstehen, dass man sich sorgt. Dass man den anderen weder bevormunden noch gar entmündigen, jedoch in dem einen Moment einfach auch da sein möchte..

Und dann denke ich an Herrn Blau und mich. Wir haben vieles über mich gehört in den letzten Monaten, und im Gegensatz zu den frühen Jahren verzweifelt er nicht, er ist da und er bleibt da. Ich weiß, dass er sich sorgt, aber er sagt es nicht. Das muss er auch nicht. Es ist auch nicht so, dass diese Aussagen und Diagnosen der letzten Monate ständig präsent sind oder sich zwischen uns errichten wie eine unüberwindbare Mauer, über die niemand von uns hinwegkommt.
Unser Leben geht ganz normal weiter, so normal es eben möglich ist. Wir leben den Moment und planen maximal den Urlaub im kommenden Jahr.
Es ist aber so, dass er mich bittet, ihm immer zu schreiben, wann ich das Haus verlasse, um nach L zu fahren. Dass ich mich bei ihm melde, sobald ich angekommen bin. Es ist völlig egal, ob man Diagnosen hat oder nicht - man kann jederzeit und überall verunglücken, es kann jederzeit und überall etwas passieren. Damit lebt man, ohne dass man sich permanent dessen bewusst sein muss oder ist. Aber gerade wenn man weiß.. es kann sich von einem Moment alles ändern.. und man hätte etwas tun, etwas verhindern können, wenn man hätte da sein können..
Da sein, ohne ständig präsent zu sein.
Ist es dann schon Kontrollsucht, ein Eingriff in den Freiraum des anderen - oder immer noch die Fürsorge?


Unabhängig davon, ob gesund oder krank.. werde ich nie niemals nachvollziehen können, warum drei Erwachsene sich von einem Erwachsenen bekochen, bebacken, bekümmern lassen, ohne selbst auch nur ansatzweise aktiv zu werden. Dass man ganz selbstverständlich den Babysitter für die Kinder anderer spielt, nein, spielen muss, weil ein offenes Wort allein bedeuten könnte, die Kinder für eine ganz lange Zeit gar nicht mehr zu sehen..

Irgendwo las ich dieser Tage, dass der Mensch das intelligenteste und zugleich grausamste Geschöpf ist, das die Natur je hervorgebracht hat. Bei ersterem bin ich mir noch nicht sicher.

4 Kommentare:

Goldi hat gesagt…

Ich glaube es kommt darauf an, wo der Antrieb wirklich herkommt und wie weit er "gesund" ist. Ist es ein "damit ich helfen kann wenn..." und ist damit unweigerlich ein "ich muss schauen ob..., denn wenn ich das nicht mache bin ich schuld daran wenn ...hilflos in der Ecke liegt"

oder ist es die "einfache" Fürsorge "Fahr vorsichtig und gib Bescheid, wenn du angekommen bist" und man wird nicht wahnsinnig und geht die Wände hoch, wenn nach der vermuteten Fahrzeit immer noch kein Anruf kommt, das Handy aus ist, wenn man anruft und man nach 1,5 Stunden über der Zeit anfängt Krankenhäuser und Polizeistationen abzutelefonieren, weil ja was passiert sein muss...

Ist es wirklich die Sorge um den anderen, weil man ihm gutes wünscht oder ist es die Sorge, dass man ohne diesen Menschen nur schlecht, schwer leben kann? Es sind so viele Punkte die dazu beitragen können und ich für mich weiß, dass es ein schmaler Grad ist

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Goldi, ja, da gebe ich Dir recht: Entscheidend ist, wie "gesund" der Antrieb ist, dem anderen helfen bzw. für ihn da sein zu wollen, wenn.
Das ist sicherlich für einen Blogleser eher schwierig - aber ich hatte diese Gedanken und diese Vorgehensweise eher auch für mich "mitgenommen". Was würde ich mir wünschen?
In jedem Fall keine totale Überwachung. Und auch keine Überwachung, die mit dem vorgeschobenen Argument der Für-/Sorge ausgeführt wird, eigentlich aber etwas ganz anderes meint ;) Denn gerade hier weiß ich aus eigener Erfahrung, wie schmal dieser Grat tatsächlich ist.
Als ich 2006 schwer verunglückte, konnte ich irgendwann dem Herrn Blau nur eine kurze Textnachricht hinterlassen (Smartphone hatte ich damals noch nicht) und mich erst nach der Erstversorgung in der Klinik wieder melden. Er ist in der Zwischenzeit fast verrückt geworden vor Sorge, weil er nicht wusste "Was ist passiert, wo ist sie jetzt, wie gehts ihr jetzt?"
Zwei Wochen später trennten wir uns - und heute denke ich: Seine zur "Unfähigkeit" verdammte Hilflosigkeit in jenem Augenblick hat nicht unwesentlich dazu beigetragen.
Auch wenn er damals schon aufgrund der Entfernung gar nichts hätte tun können.
Wenn einem aber etwas passiert, von dem man sich später sagen müsste "Hätten wir sie nur ein, zwei Stunden eher gefunden, weil wir wussten, wo wir suchen müssen" - dann ist das, glaube ich, eine Belastung, die Du nie wieder los wirst.

Goldi hat gesagt…

Liebes, mein Kommentar war ganz auf meine Welt und mich bezogen.

Ich kenne die Seite wahnsinnig werden, weil ungutes Gefühl und das im Anschluss leider auch passte. Ebenso wie "zu spät gefunden" aber auch "muss wissen wo Mensch ist, weil da ist auf alle Fälle was passiert, weil ich nicht dabei war" über "hoffentlich ist alles ok, ist verdammt weit über die Zeit" bis hin zu "sämtliche Krankenhäuser und Polizeistationen zwischen Ort A und Ort B anrufen und Person X steht mit 40 Minuten Verspätung strahlend in der Tür.

"Meine" Menschen wissen, bei Fahrtstrecke ein kurzes "piep" bin da/unterwegs oder auch ein "dauert noch" reicht. Der kleine A. hat im letzten Jahr vergessen nach der Abfahrtzeit mal eben ein "ach ich fahr noch mal eben in die entgegengesetzte Richtung (so 300km) bevor ich zu euch komme" zu senden. Als er dann nach Abfahrtzeit (2 Stunden ohne Stau) nach 6 Stunden immer noch nicht da war und das Handy aus,war ich kurz davor das große A. anzurufen, da kam klein A. dann vorgefahren, strahlend, glücklich und die Golds waren es auch.

Und Hilflosigkeit ist gerade wenn dann wirklich was passiert übel, ich weiß nicht wie andere damit umgehen, bei mir sitzt es und es ist schwächer geworden, aber "du hättest ...." ist manchmal sehr, sehr laut. Schuld? Ja, vielleicht, vielleicht auch ein, dann wäre es später passiert, aufhalten kann man den Schwarzen nicht wenn er es ernst meint.

Anderseits, und das meine ich jetzt wirklich ernst:

Wir können nicht verhindern das etwas passiert,
unser Leben ist endlich und dessen sind wir uns oft genug nicht wirklich bewusst, wären wir das könnten wir auch nicht unbeschwert durch die Gegend tanzen ;-)
aber wir können unserem Gegenüber das "mensch warum gibst du nicht Bescheid" eher verzeihen, wenn wir versuchen die Aussage dahinter zu sehen nämlich "du bist mir wichtig und ich möchte, dass es dir gut geht"

Vielleicht etwas wirr, aber ich denke du verstehst.

Anonym hat gesagt…

Liebe Helma,
ich bin froh, dass du dich überwunden hast, darüber zu schreiben. Auch wenn man sich vielleicht doch lieber an die schönen Dinge erinnern mag.
Diesen Marathon kann ich leider auch unterschreiben. Werte, die nicht überprüft wurden, keine wirklich Hilfe, das nicht ernst nehmen obwohl es sehr wohl eine körperliche Ursache gegeben hätte. Das ist sehr frustrierend und zermürbend. Meine Schwester hat übrigens auch Hashimoto.
Hätte man früher was getan, wäre ihr viel erspart geblieben. Ich drück dir!