"Wann gibt es eigentlich wieder einen Post?" wurde ich gestern Abend gefragt.
"Wenn ich aufhöre, so müde zu sein", antwortete ich.
Die wöchentlichen Infusionen sollen eigentlich ein paar Werte auf die Beine stellen, den seit mindestens 3 Jahren leeren Eisenspeicher zum Beispiel - und vielleicht tun sie das auch, aber ich bin seither müde ohne Ende. Könnte schlafen ohne Ende. Wollte so vieles tun und... schlafe am Ende nur. Ob dieses Schlafbedürfnis auch so ein wenig zur noch mehr entspannten Haltung beiträgt, von der ich mich manchmal frage, ob bei mir eigentlich noch alles stimmt? Ich meine, wenn ich mich so umschaue und umhöre, wenn ich höre oder lese, was die Menschen derzeit und allgemein so aufregt, dann zucke ich meist nur mit den Schultern, scherze über das Meiste hinweg oder bediene mich meiner Lieblingsmusik. Und male. Oder lese Bücher. Die wenigen Fluchtmöglichkeiten, mich der Dauerbeschallung und Dauerversorgung mit dem gegenwärtigen Kotz-Thema Nummer Eins entziehen zu können. Zu dem sich die Kritik, die anfangs unterdrückt werden konnte, mehrt und leise, aber nachhaltig immer offener und auch fundierter wird.
Mich erschreckt, wie beeinflussbar Menschen sind.
Mich erschreckt auch, wie beeinflusste Menschen agieren und reagieren. Wie sie aufeinander losgehen und gegeneinander ins Feld ziehen, nur weil Nachbar A nach wie vor seine Liebhaber empfängt und Nachbar B im Erdgeschoss seine Grill-Party feiert, während Mütter mit ihren Kindern im Gemeinschaftsgarten im Sand spielen. Wie oft jemand die Polizei ruft oder ihr auf die Pinnwand schreibt, wohin sie bitte überall schauen soll. Adressen, Personen gemeldet werden. Oder wie Menschen einen Bogen umeinander machen bzw. erwarten, dass man diesen Bogen um sie schlägt - so als wüsste man nicht inzwischen, dass eine Übertragung gar nicht möglich ist, solange nur jemand an mir vorbeigeht. Wie viele mit Mundschutz und Handschuhen rumlaufen, so als wüsste man nicht, dass man sich einfach nur die Hände waschen muss, eben halt nur noch öfter bzw. regelmäßiger als sonst. Noch bis vor kurzem wurde begründet, dass ein Mundschutz einen Gesunden nicht schützt.
Inzwischen wird empfohlen oder gar verlangt, Mundschutz zu tragen, weil ja die Dunkelziffer so hoch sei und man ja selbst jemanden infizieren könnte. In Jena ist Mundschutz inzwischen Pflicht. In Österreich auch. Söder denkt inzwischen auch noch darüber nach, während immer mehr Menschen auf eine Lockerung hoffen und warten. Aber ehrlich: Wie soll ich mich infizieren, wenn ich seit dem 19. März zu Hause sitze und niemanden livehaftig kontaktieren darf? Wie soll ich eine Dunkelziffer sein oder werden, wenn ich das Haus maximal zum Einkauf und zum Arztbesuch verlasse? Oder noch zum Spazierengehen?
Mitte März gefror mir das Lächeln, als der Mann mir eröffnete, dass seine Firma so gut wie alle Angestellten ins Home Office geschickt hätte - und wir nun beide auf unbestimmte Zeit von daheim aus arbeiten würden. Mein geistiges Auge sah alle meine in den nunmehr fast sechs Jahren des Home Office gut gepflegten Angewohnheiten gefährdet - und in Konsequenz dessen mich mit der Schaufel im Garten eine ausreichend große Grube ausheben. Mindestens aber fürchtete ich ein wenig um die häusliche Harmonie.
Inzwischen nun läutete die vierte Woche des gemeinschaftlichen Eremitendaseins ein - und zumindest ich wundere mich, dass die Grube nicht mal ansatzweise gegraben wurde und wir uns darüber hinaus sogar immer noch gut verstehen. Dass wir immer noch harmonisch miteinander umgehen und keiner von uns wenigstens gedanklich die arthritischen Finger am Hals des anderen vergräbt. Ich denke, dass dies nicht nur auf meine allgemeine lecks-mi-am-Mors-Stimmung zurückzuführen ist. Sondern auch darauf, dass bei aller Arbeitsintensität auch der Mann ausgeruhter ist. Auch wenn er mindestens genauso müde ausschaut wie ich mich derzeit fühle. Immerhin steht er mindestens eine Stunde später auf als sonst, der Arbeitstag endet für gewöhnlich viel eher als sonst und wenn es das Tagesgeschäft zulässt, joggt er oder fährt mit dem Rad draußen rum.
Als er gestern Abend vor dem Fenster die Korbstühle frühlingsfertig zurechtmachte und nicht nur mit einem lecker Käffchen, sondern auch noch einem leckeren Eierlikörchen lockte, da dachte ich für einen Moment: "Ja.. Ja genau, warum eigentlich nicht." Ließ das Diensttelefon in der Schublade verschwinden, natürlich auf lautlos gestellt "Ach.. du hast angerufen? .. Hups, gar nicht gehört.", ließ mich im Korbstühl nieder, streckte die Beine aus und genoss den wunderbar milden Frühlingstag. Mit dem Grillgeruch aus dem Erdgeschoss und den Kindern im Sandkasten. Ich schloss die Augen, genoss das Vogelgezwitscher, während der Mann sich neben mir niederließ, die Socken auszog und ebenfalls die Beine hochlegte.
"Ruf mich mal an", begehrte er, "irgendwas stimmt grad meinem Mobile nicht."
Mit dem Blick auf seine nackten Füße wartete ich auf das Pling seiner Mailbox und sang dann irgendwas von "...und dann spra-hach der alte Weißfuuuußindiaaaaaner" und so ins Telefon. Amüsierte mich köstlich, als er erschrocken mit den Händen wedelte: "Lass den Quatsch! Ich hab meiner IT die Berechtigung gegeben, meine Mailbox abzuhören!"
Na dann, lehnte ich mich zufrieden zurück, konnte er ja noch froh sein, dass mein Text diesmal harmloser Natur gewesen war.
Wir verbrachten den Abend im Korbstuhl, bis es kühl wurde und wir zurück ins Haus gingen. Dort schlief ich irgendwann auf dem Sofa ein, während der Mann noch Börsennachrichten las und im Netz surfte. Und so.. in etwa vergehen unsere Tage.. Entspannt, gleichmütig, relativ unaufregend. Einem Gefühl gleich, wie wenn man genüßlich in einer Hängematte schaukeln und darauf warten würde, eines Tages wieder aufzustehen und weiterzumachen.
Es wird vermutet, dass die Menschen jetzt in dieser (inneren) Ruhe zu sich selbst finden und sich zurück auf eigentliche Werte besinnen. Auf dieses "Was ist wirklich wichtig im Leben?" und so. Auch das sehe ich etwas kritischer. Ich persönlich denke ja, dass die Leute aufatmen und innerhalb kürzester Zeit genauso weitermachen werden wie zuvor auch. Da nehme ich mich auch nicht raus.
Ich habe vorher nicht auf Kosten anderer gelebt oder fremde Leute angeschissen - ich werde es auch jetzt und auch nachher nicht tun. Bitte und Danke war mir zuvor schon wichtig und mein ganz persönlicher Rückzugspunkt ebenso. Ich kann immer noch Nein sagen, wenn ich etwas nicht möchte, ohne mich dafür millionenfach zu entschuldigen oder zu rechtfertigen. Rücksichtnahme ist noch immer kein Fremdwort für mich und buchstabieren kann ichs auch.
Aber ich würde mir wünschen, dass ich es schaffe, auch in Zukunft mehr darauf zu achten, mich insbesondere im Dienstlichen abzugrenzen. Dass ich nicht zulasse, wie oft ich angerufen werde, wenn ich krank bin oder gar Urlaub habe oder es nach 21 Uhr geworden ist. Nur um beispielsweise die Frage zu beantworten, wem man welche Post gibt und wo man was findet. Ich hab schon auch an Wochenenden oder freien Tagen den Chef angerufen, um ihn an etwas zu erinnern oder ihn auf etwas hinzuweisen. Aber ich muss noch durchsetzen, dass eine gereichte Hand nicht bedeutet, dass man mich ganz selbstverständlich und völlig vereinnahmen darf. Dass ich niemandes Eigentum bin. Dass mir Raum für mich selbst bleiben muss. Zum Malen. Zum Singen, während ich Essen zubereite, Gemüse schneide oder Kartoffeln schäle. Zum Tanzen auf dem Holzfußboden, während ich die Kommode und das Regal abstaube.
Wie sehr ich es liebe, mit dem Auto unterwegs zu sein, die Lieblingsmusik so laut es geht, das Fenster heruntergelassen, der herrlich warme Wind in meinem Haar und mit diesem wunderbaren Lebensgefühl. Wie sehr ich mich auf den warmen Frühling, die Kleidchen und die Sandalen freue. Wie sehr ich mich auf die Straßencafes freue und das Radeln auf dem Deich. Egal ob am Meer oder am Rand des breiten Flusses. Dass ich mir dafür die Zeit nehme, ohne an den nächsten Schritt zu denken.
Die vierte Woche Lock-Down und ich habe nicht mehr telefoniert als sonst. (Ich mag Telefonieren eh nicht so.) Ich habe nicht mehr Briefe geschrieben als sonst und auch nicht öfter gefragt als sonst "Wie gehts?" Ich wünsche nicht standardmäßig "Bleib schön gesund", sondern maximal, wenns passt "Lass es dir gut gehen" oder bei meinen Söhnen "Passt auf euch auf." Das aber eher im Sinne von zum Beispiel am Steuer. Jetzt, wo Sohn II auch noch ein neues Auto mit einer PS-Zahl hat, die fast doppelt über der meinen liegt. Und ich bin ja nun auch.. äh.. kein Schleicher. Woran er mich übrigens auch immer wieder gerne erinnert: "Das sagt mir die, die in drei Stunden von M nach L fährt!" Öhm. Tja nun. Man will ja auch ankommen, irgendwann ;)
Ich habe mir auch noch keine neuen Bücher gekauft, trotz Empfehlungen zaudere ich noch.
Lediglich meinen Kleiderschrank habe ich sortiert, aufgeräumt und natürlich das eine oder andere Kleidungsstück für die Kleiderkammer vorgesehen. Der Mann hat das wie immer kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen: "Was DAS alles mal für Geld gekostet hat!" Auf jeden Fall nicht viel, denn exquisit eingekauft habe ich noch nie. Sollte ich vielleicht aber mal? Mich auf ein paar Basics konzentrieren und dafür ein paar erlesene? Die man gut miteinander kombinieren kann?
Ich bin aber nicht nur Basic. Mal ist mir nach verspielt, mal nach romantisch, mal nach klassisch, mal nach sportlich und mal nach bequem. Es versteht sich von selbst, dass diese Stimmungslagen nicht in zwei Regalreihen seines Kleiderschrankes passen können.
Das Leben zu genießen - für diese Erkenntnis braucht es diese aktuelle Situation nicht. Entweder kommt diese Weisheit von allein mit der Zeit - oder sie kommt mit bestimmten Lebensereignissen bzw. Lebenserfahrungen, auf die man gerne verzichtet hätte. Wie oft hat sich der Mann echauffiert über Dinge, die mir maximal ein müdes Lächeln abringen konnten. Und wie oft sagte ich dann "Was du dich da aufregst.." So oft, dass ich mich tatsächlich fragte, wie durcheinander mein Hormoncocktail tatsächlich ist und ob sich die angeborene Arschruhe des Nordens noch in einem gesunden Level bewegt. Nur... Es ist nicht meine Aufgabe, anderen Menschen etwas vorzugeben. Wer sagt denn, dass mein Lebensprinzip das Richtige ist? Für mich ist es das Richtige - weil es mir guttut. Aber jeder Mensch hat sein eigenes Prinzip und solange er dies nicht auf Kosten anderer tut... Who cares?
Für mein Empfinden ist nicht das Wertvollste, was wir mit Geld bezahlen (können). Das Wertvollste, das wir haben oder bekommen können, ist.. Zeit. Zeit miteinander und füreinander. Ganz gleich, wen wir da vor uns haben. Den Mann. Die Frau. Die Kinder. Die Menschen, an denen unser Herz hängt.
Einem der Kommentatoren unter obigem Video bin ich gefolgt und habe mir die Kopfhörer aufgesetzt, die Augen geschlossen - und zugehört. Und ich konnte nicht aufhören, Gänsehaut zu haben.
"We don't have forever... So celebrate Life... Enjoy being alive."
Ich persönlich wünschte mir, Menschen würden aufhören, einander zu belauern, aufeinander loszugehen oder einander anzuschwärzen. Oder uns gegenseitig hochzuschaukeln. Uns allen täte es gut, ein bisschen mehr bei uns selbst zu bleiben, in uns zu ruhen. Glaube ich.
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