Samstag, 21. Juli 2018

Wege



Dieser Tage las ich über einen jungen Mann in NRW, der seit vier Jahren einen Rechtsstreit mit dem Land führte, weil man ihn falsch begutachtet und der Intelligenz minderbemittelt eingestuft hatte.
Was zur Folge hatte, dass er sieben Jahre lang (wenn ich es noch recht erinnere) eine entsprechende Beschulung erhielt.
Wenn man sich so vor Augen führt, wie weit Mensch, Technik und Medizin entwickelt ist, dann fragt man sich doch - auf irgendeine Weise beklommen - wie so etwas heutzutage noch möglich sein kann? Dass allein die Beurteilung durch einen Gutachter ausreicht, Dir den Weg abzuschneiden? Oder zumindest umzuleiten - vorausgesetzt, Du hast die Energie und die Mittel, Dich diesem Kampf zu stellen?
Als ich darüber las, dachte ich an meinen eigenen Jungen - und daran, wie man ihm im Alter von drei Jahren eine Form der Epilepsie bescheinigte, die einige Jahre später im Uniklinikum als "frühkindliche Anomalien, die hat jedes zweite, dritte Kind, würden wir sie alle untersuchen" revidiert wurde und ein umgehendes stufenweises Absetzen der beiden Medikamente einleitete.
Ich dachte daran, wie man den Jungen im Alter von sechs Jahren einiger Tests unterzog, von der mir im Vorfeld nicht erklärt wurde, was das für Tests waren, wozu sie da waren und worauf sie in letzter Instanz abzielten. Man stellte lediglich die Frage, wann ich wöchentlich mit dem Kind in die Praxis kommen könne. Mit dem Kind, das wenige Wochen zuvor eingeschult worden war, mit einem Chef im Nacken, der mir jeden Tag das Leben schwer machte - also sagte ich "Wenns Ihnen nichts ausmacht, vier Uhr könnten wir da sein."
Mir war zuvor nicht bekannt, dass man ihm unter diesen Umständen teils knifflige und logische Denkaufgaben vorlegte - mit der Endkonsequenz: "Die Intelligenz Ihres Kindes liegt im unterdurchschnittlichen Bereich, Sie müssen ihn sofort ausschulen."
Ich seh mich heut noch dort auf diesem Stuhl sitzen, wie angeleimt, nur langsam begreifend, was man da von mir wollte. Stand auf, nahm mein Kind an die Hand und fuhr heim. Keine Frage, ich habe Rotz und Wasser geheult. Dieser kleine aufgeweckte Junge, der alles wissen und alles entdecken wollte, der so viele Fragen stellte und viel schneller dachte als er zu sprechen vermochte - der sollte nicht mehr die reguläre Schule besuchen dürfen?
"Nie im Leben", bestärkte mich meine Mum, die Erzieherin, die den Jungen jedes Jahr im Sommer wochenlang zu sich holte, am Telefon, "das hätte ich gemerkt."
Auch die beiden Lehrerinnen bescheinigten ihm eine große Wissbegier, einen großen Ehrgeiz - er träume nur zuviel. "Das hat er von mir", habe ich gelächelt.
Und so wechselte er nicht die Schule, aber wir den Arzt und gingen auch aufgrund anderer Vorfälle ab diesem Zeitpunkt direkt in die Kinder-Uniklinik. In der Folge bekam der Junge einen guten Realschulabschluss, zwei abgeschlossene Ausbildungen und heute sagt er von sich: "Wär ich damals nicht so verspielt und faul gewesen, dann hätte ich heute was ganz anderes machen können."
Und wenn ich an den Beitrag des jungen Mannes aus NRW denke, der inzwischen seinen Hauptschulabschluss nachgeholt hat und einen Ausbildungsplatz sucht, dann frage ich mich, wie unfassbar schnell und einfach es geht, einen Weg vollkommen zu verändern.. Und ich frage mich, wie oft das wohl schon passiert ist?

..daran dachte ich auch, als ich mich am Abend in das world wide web einloggte und dem Doktor, den ich am vergangenen Dienstag aufsuchen sollte zur Borreliosebehandlung, eine Absage für den Folgetermin schrieb. Mit der Begründung, dass ich mich entschieden hatte, die Behandlung am Klinikum in L fortzusetzen. Nur ganz kurz, für die Flüchtigkeit eines Gedanken, hatte ich erwogen, noch mehr hineinzuschreiben. Dass mir die Art des Nichtzuhörens zu denken gegeben hatte, ebenso wie die lapidare Aussage "Die Borrelien können Sie vergessen, das wird doch sowieso nichts mehr, ist doch viel zu lange her" und insbesondere auch sein Umgang mit der (übrigens wirklich sehr netten, zuvorkommenden) Sprechstundenhilfe. Er mochte hochintelligent sein, er mochte von mir aus zehn Diplome an der Wand haben - jedoch die Art und Weise, wie jemand mit Menschen umgeht, sagt soviel mehr über denjenigen selbst aus als über alle anderen.

Ich habe jedenfalls beschlossen, mir nicht den Weg abschneiden zu lassen.

Und natürlich habe ich diesen Zusatz nicht mit hineingeschrieben. Es würde ihn ohnehin nicht interessieren und auch nichts an den Gegebenheiten ändern.

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