Dienstag, 24. Juli 2018

Unsere Schachtel Bonbons


"Meine Seele hat einen Hut.
Ich habe meine Jahre gezählt und festgestellt, dass ich weniger Zeit habe, zu leben, als ich bisher gelebt habe.
Ich fühle mich wie dieses Kind, das eine Schachtel Bonbons gewonnen hat: Die ersten isst es mit Vergnügen, aber als es merkt, dass nur noch wenig übrig war, begann es sie intensiv zu schmecken.
 
Ich habe keine Zeit für endlose Treffen, bei denen die Statuten, Regeln, Verfahren und internen Vorschriften besprochen werden, in dem Wissen, dass nichts getan wird.
Ich habe keine Zeit mehr, absurde Menschen zu unterstützen, die trotz ihres chronologischen Alters nicht erwachsen sind.
Meine Zeit ist zu kurz: Ich will die Essenz, meine Seele ist in Eile. Ich habe nicht mehr viel Süßigkeiten im Paket.
 Ich möchte neben Menschen leben, sehr menschliche Menschen, die über ihre Fehler lachen können und die nicht von ihren eigenen Erfolgen aufgeblasen werden und die Verantwortung für sich selbst übernehmen.
 
Auf diese Weise wird die Menschenwürde verteidigt und wir leben in Wahrheit und Ehrlichkeit. Es ist das Wesentliche, das das Leben nützlich macht.
Ich möchte mich mit Menschen umgeben, die es verstehen, die Herzen zu berühren, mit denen, die harte Striche des Lebens gelernt haben, mit süßen Berührungen der Seele zu wachsen.
 Ja, ich habe es eilig, ich habe es eilig, mit der Intensität zu leben, die nur die Reife geben kann.
Ich habe nicht vor, irgendwelche der restlichen Nachtische zu verschwenden. Ich bin mir sicher, dass sie exquisit sein werden, viel mehr als die, die bisher gegessen wurden.
Mein Ziel ist es, das Ende zufrieden und in Frieden mit meinen Lieben und meinem Gewissen zu erreichen [...]"

Mario de Andrade (San Paolo 1893-1945)
Dichter, Schriftsteller, Essayist und Musikwissenschaftler
Einer der Gründer der brasilianischen Moderne



9 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ein weiser Mann ...

LG
Mechthilda

Puschkalina hat gesagt…

schöner kann man es nicht sagen Puschi♥

Zigeunerblut hat gesagt…

Boah! Genau so, und nicht anders.

Ursula hat gesagt…

Bamm ja so geht es mir auch gerade so mal Ü 50... das meiste ist gelebt einiges gut, manches weniger gut, manches hätte nicht sein müssen, manche haben mich schon verlassen und ich kann mich nur noch erinnern wie schön es war - mein Papa z.B. - .
Ja ich will leben, genießen, vielleicht das eine oder ander noch tun z.B. Plstikverzicht oder so und mich nicht mit negativem Ballast umgeben.

LG
Ursula

Wonderful Fifty hat gesagt…

Was für ein wunderbarer Text, den wir uns alle zu Herzen nehmen sollten. Jeder von uns hat nur eine beschränkte Zeit zur Verfügung und warum sollen wir diese kostbaren Stunden mit unangenehmen Menschen - im wahrsten Sinne des Wortes - vergeuden? Ich habe einmal einen Vergleich mit einem Bankkonto gelesen – bei der Geburt wird ein Betrag dem Konto zugebucht und dann wird immer abgebucht und abgebucht, es kann nichts mehr dazu gebucht werden. Wenn wir sehen, wie der Betrag auf unserem Konto kleiner und kleiner wird, dann wird davon sicher nichts verschwendet oder achtlos eingesetzt, da wird da jede auch noch so kleine Ausgabe sorgfältig abgewogen und nur in Zeiten mit lieben Menschen investiert. Daher denke ich, dass es hin und wieder ganz wichtig ist, sich dessen wieder bewusst zu werden und etwas wachgerüttelt zu werden.
Ich wünsche dir einen schönen Abend und alles, alles Liebe

bon. hat gesagt…

ab der mitte geht es rasend schnell. und die bonbons schmecken dann nicht wirklich besser.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Ursula, dieser negative Ballast.. Früher hatte ich eine wesentlich dickere Haut - oder ich war insgesamt entspannter, so genau weiß ich das nicht. Der Mann (und nicht nur der) hat immer gesagt "Lerne endlich, dich zu schützen. Trenne dich von dem, das dir nicht guttut."
Vielleicht wusste ich, was er meinte, aber ich begriff die Umsetzung nicht, weil sie teils den Abschied von Menschen bedeutete, was mir wiederum als ein Verrat an der Freundschaft, eine Illoyalität bedeutet hätte. Inzwischen jedoch habe ich das nicht nur begriffen, sondern auch umgesetzt. Nicht mal bewusst. Aber dafür umso nachhaltiger.
Und ja, auch solche Dinge wie der Verzicht auf Plastik o. ä. gehört für mich zum bewussteren Leben dazu. Keinen Coffee to go mehr zu kaufen, wenn ich nicht meine Mehrwegbecher dabei hab. Dann eben hinsetzen und eine Tasse Kaffee servieren lassen - oder ich trinke dann eben zu Hause. Nur die Lebensmittel einzukaufen, die man auch wirklich verbrauchen kann. Nicht wahllos und auch nicht das billigste Fleisch zu kaufen. Lieber weniger, aber regional. Das Auto stehenzulassen, wenn man mit ÖPNV Ziele genauso gut erreichen kann. Das sind alles kleine Dinge, und ich weiß, dass ich in mancherlei Hinsicht noch gut Nachholbedarf hab. Aber es ist ein Anfang, und viele kleine Dinge ergeben am Ende auch ein Großes.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Gesa, das mit dem Konto ist auch ein wirklich interessanter Vergleich. Weil es einfach auch so ist: Bin ich ohne Bargeld unterwegs und zahle hier und da mit Kreditkarte, gebe ich unter dem Strich mehr Geld aus, weil ich nicht immer unbedingt summiere. Habe ich aber einen Betrag X im Portemonnaie (was eher selten bei mir vorkommt, sollte ich ändern), bin ich viel geiziger und viel weniger bereit, dieses Geld auch auszugeben. Ist das nicht komisch?
Und genauso kann man das eben auf das Leben ummünzen.. Man verschwendet weniger - sowohl als auch.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Lieber bon., ich bin auch "ab der Mitte" und für mich.. schmecken die Bonbons tatsächlich auch nicht besser im herkömmlichen Sinne. Gleichwohl genieße ich bewusster und das wiederum.. vermittelt zumindest mir ein besseres Geschmackserlebnis.