Sonntag, 24. November 2019

Die Kunst, im rechten Moment von der heißen Herdplatte zu springen



Ich weiß, dass ich mit dem Mann nicht über all die Dinge sprechen kann, die mich beschäftigen, die mich bewegen. "Mit was du dich alles so befasst", knurrt er manchmal unwillig, "hast du nicht schon genug mit dir selbst zu tun?" Hätte ich vielleicht. Ich finde es aber nicht schlimm, den Blickwinkel auch (viel) weit(er) weg zu lenken, anstatt immer nur um sich selbst zu kreiseln.
Unlängst liefen wir abends durch die Stadt, waren auf dem Weg nach Hause, meine Hand ruhte in seiner, meine Finger waren zärtlich um seine geschlungen. Und ich überlegte, ein Thema anzuschneiden, bei dem er mich dann unterbrach: "Erzähl mir nichts davon. Ich will das nicht hören."
"Okay. Gut. Schade. Weil, ich will dir ja auch mal Dinge erzählen können."
"Ich weiß. Ich will aber nicht, dass Probleme anderer unsere Beziehung belasten."
"Tun sie doch gar nicht?" wunderte ich mich.
"Doch, tun sie. Ich will lieber die schönen Dinge mit dir erleben. Und wenn du mir von Problemen anderer erzählst, springt sofort mein Kopfkino an. Dann fange ich an, mir Gedanken zu machen, wie man diese Probleme lösen könnte."
"Ich will Probleme anderer nicht lösen", wunderte ich mich noch immer, "ich will mich nur mit dir darüber austauschen."
"Ich weiß. Aber ich bin da anders als du. Ich will dann sofort immer alles lösen."

Im gestrigen Austausch über ein neues, anderes Thema fielen mir seine Worte wieder ein. Auch weil er bei diesem Thema die Auffassung begrüßte, dass man sich auf seine Ziele fokussieren sollte, sie in Angriff nehmen und diesen Berg hinauf bis ans Ziel auch bewältigen sollte. Dass man auch in schwierigen Momenten die Zähne zusammenbeißt, durchhält, weitermacht. Solange weitermacht, bis man sich das Zielband um den Bauch gewickelt hat, die Siegerflasche köpft und auf das Ziel anstößt, sofern man nicht vorher erschöpft in die Knie gegangen ist.. Was, wenn Du Dein Ziel erreicht hast, Dir die Siegerflasche dann jedoch aus der Hand fällt?

Grundlegend finde ich die Herangehensweise richtig: Wenn ich Ziele habe, Wünsche habe, muss ich selbst mich darum kümmern. Dann muss ich schauen, wie ich erreichen kann, das für mich wichtig ist. Jedoch empfinde ich es als gefährlich, sich auf diesem Weg nicht auch Inseln schaffen zu dürfen, zu können, auf denen man ausruht. Es gibt wenig klare Wege, die geradewegs von A nach B führen. Viele Wege sind mit Umwegen, Abkürzungen, Stopp-Schildern, Umleitungsschildern, Hemmnissen, Stau verbunden. Das kostet mitunter arg viel Energie. Doch was für mein Empfinden sehr unterschätzt wird, ist die eigene (mentale) Belastbarkeit eines Einzelnen. Und dass jeder einzelne Schritt nicht nur körperliche, sondern insbesondere auch mentale Energie benötigt, auch dann, wenn man sich das nicht ein- bzw. nicht zugestehen will.

Vor genau elf Jahren bin ich, nur in Unterwäsche bekleidet, vor einem Neurologen auf und ab gelaufen, während er mir pausenlos Fragen stellte. Wie ich meinen Alltag bewältige. Wie ich mich um die Söhne kümmere, den Job, den belastenden Scheidungsprozess, mit der schwierigen oder nicht vorhandenen Beziehung umgehe. Und in dem geforderten Seiltänzergang (damals konnte ich ihn wenigstens noch) schaute ich ab und an verwundert über meine Schulter zu ihm: "Ich verstehe Ihre Frage nicht. Was meinen Sie mit "Wie"? Ich mach einfach?"
"Wieso machen Sie einfach?"
"Weil ich es muss?" wunderte ich mich aufrichtig. Weil ja sonst keiner (für mich oder mit mir) machte. Augenscheinlich hatte ich es einmal zu oft geantwortet, denn als er mir die letzte Frage stellte, antwortete er, bevor ich es tat: "Ja komm, sagen Sies mir nochmal: Weil Sie es müssen."
Und ich weiß noch, dass ich lächelte: "Ich versteh Sie wirklich nicht. Wer solls denn sonst machen? Ist doch keiner da."
Doch draußen vor der Tür, da kämpfte ich mit den Tränen und sagte zur Begleitung: "Eines Tages werden meine Baustellen mich umbringen."
Der damalige Neurologe schrieb einen mehrseitigen Befundbericht und innerhalb kürzester Zeit fand ich mich erstmals in einer Klinik für Schmerzpatienten wieder. Und verblieb dort mit einmaliger Verlängerung ganze acht Wochen. Nach einem Jahr das Ganze noch einmal, nur diesmal in einer Reha-Klinik. Was habe ich vor allem mitgenommen? Das Bewusstsein, dass ich eben nicht immer muss. Dass ich anhalten darf. Dass ich sagen darf "Nein, jetzt nicht." Dass ich sagen und auch umsetzen darf: "Nein, ich muss Pause machen, sonst geht mir die Puste aus." Dass ich mich abgrenzen und auch mal nur für mich sorgen darf. Und muss.
Auch kam mir bei der gestern aufgeworfenen Thematik die Geschichte des Frosches wieder in den Sinn. Dem Frosch, der auf der Herdplatte liegt und zwar merkt, dass sie sich langsam erwärmt. Wäre sie heiß beim Betreten, würde er sofort zur Seite springen. Liegt er aber drauf und sie erwärmt sich nach und nach, gewöhnt er sich an die Wärme und bemerkt (vielleicht) zu spät, dass diese Wärme seinen Tod bedeuten kann.

In unserer heutigen, immer weiter kultivierten Leistungsgesellschaft sind Praxen, Kliniken voll von Menschen, die sich permanent dem Druck ausgesetzt fühlten, funktionieren zu müssen, bis sie nicht mehr (mithalten) konnten. Dabei ist völlig unerheblich, ob dieser Druck von anderen ausgeübt wird oder man sich "nur" selbst diesem aussetzt, eben weil man meint, funktionieren zu müssen. Weil es doch ein Ziel gibt! Wie lange das gut geht, bestimmt jedoch die eigene individuelle Belastungsgrenze. Niemand kann Dir sagen, wie weit Du noch zu gehen hast und an welcher Station Du Rast machen kannst.
"Ich wünschte, ich hätte deine Gelassenheit", sagt der Mann öfter in letzter Zeit. "Und ich wünschte, ich hätte deine Entspannung. Wenn ich was auf dem Plan habe, dann mache ich das erst und dann ruhe ich mich aus. Du kannst dich schon ausruhen, obwohl du noch gar nicht angefangen hast."
"Stimmt", amüsiere ich mich dann, "ich ruhe mich aus, weil ich müde bin vom Wandern davor."

Ich habe ein Problem mit Menschen, die durch ihr Leben dümpeln, von Veränderungen sprechen und sie doch nicht angehen. Die sich viel eher daran gewöhnen, wie es gerade ist und damit arrangieren.
"Du bist noch viel zu jung, um dich durchs Leben zu schleichen", habe ich erst vor einer Weile zu jemandem gesagt, "wenn du weißt, dass du anders leben möchtest, dann fang es auch an."
Es ist jedoch ein Unterschied, ob jemand keinen Bock hat oder ob er (gerade) nicht mehr kann.
Es wird vielleicht auch nicht jeder so klar artikulieren können oder wollen. Hier finde ich Zwischentöne ganz wichtig. Unterscheiden zu können, wann jemand einen Ansporn oder tatsächlich Unterstützung, Hilfe braucht. Vor allem, wenn Du in derartigen Schuhen selbst auch schon gelaufen bist.

6 Kommentare:

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Sage mal, meine liebe Helma, hast du zufällig gerade Urlaub, weil du so (wunderbar) lange Artikel schreibst, die so viele Probleme aufwerfen. Und ich bin nicht mehr so krank und ans Zimmer gefesselt, dass ich die notwendige Zeit hätte, das alles - nicht nur bei dir - zu lesen und zu beantworten. Aber für dich nehme ich mir schon eher Zeit zum Schreiben als für andere.
Wenn es vor 11 Jahren war - ich finde übrigens den Neurologen sehr sympathisch in deiner Beschreibung - war dein Großer 19 - na gut, das ist natürlich noch nicht erwachsen und er hatte ja noch einen kleineren Bruder. - Konnten deine Eltern nicht mal bei der Betreuung aushelfen, so dass dir Druck von der Seele genommen worden wäre.
Aber gut, vor elf Jahren ist jetzt vorbei. Und es sieht so aus, als wenn du es gelernt hättest, mehr auf dich zu achten, ohne egoistisch zu sein.
Ganz lieben Gruß zu dir

Dies und Jenes hat gesagt…

Liebe Helma,

danke für diesen Post. Du schreibst dir ja gerade recht viel von der Seele. Gut so. Und darf ich vorstellen ich bin Frosch und hab gerade noch meinen Arsch retten können.
Der Neurologe war ein kluger Mann. Aber wer hätte es denn bitte machen sollen, du warst mit den Kids alleine. Ich war zwar nicht alleine aber ich hätte trotzdem gerne jemand an meiner Seite gehabt. Mein Mann war damit beschäftigt unsere Existenz zu sichern und mir zu helfen, mit der Gesundheit und Entwicklung der Zwillinge dem Teilzeitjob und es allen recht zu machen - und jetzt lassen uns die fallen, denen wir versuchten alles recht zu machen.

Sorry dass ich beim letzten Post irgendwie zu viel und tief geschrieben habe. Liegt wohl daran, dass ich irgendwie spüre dass du und ich nicht ganz fremd sind....
Und zur Frage des Alters - in wenigen Stunden werd ich 57 Jahre und wünsche mir dass ich noch ein paar schöne Jahre erleben darf.

Ähnlich wie Dein Neurologe stellte mir damals nach der Diagnose MS mein alter Doc ein paar unbequeme Fragen die mir klar machten, dass ich die Warnzeichen sehr wohl hatte aber eben ingorierte.

Übrigens bin ich stolz auf mich. Habe meiner Mutter heute das Weihnachtsessen abgesagt. Sie lag mir schon Tage in den Ohren sie muss das jetzt aber endlich wissen. Ich sagte wir essen bei uns und woanders. Also kommen tun wir schon aber nicht zum Essen.

Liebe Grüße
Ursula

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Clara, nein, ich habe keinen Urlaub, aber manche Gedanken gehen auch in der Gestalt in meinem Kopf rum, dass ich darüber nachdenke, wie ich es formulieren würde, wenn ich es aufschriebe. Und wenn ich mich dann dransetze und es auch tu, dann geht das ganz fix. Diesen Post hier hab ich innerhalb von ner halben Stunde geschrieben, wobei ich mehr Zeit damit verbrachte, einen guten Song aus meiner Lieblingsdatenbank mit auszusuchen. Weil ich Texte ganz oft unter Begleitung von Liedern schreibe. Sie inspirieren mich genauso wie mein Umfeld. Besser gesagt: Sie erleichtern mir das Schreiben. Auch wenn sie manchmal bewirken, dass ich mich beim Schreiben verzettle. ;)

Nein, meine Eltern konnten mir nicht helfen. Sie wohnten ja ca. 530 km von mir entfernt. Aber meine Mama half mir, als ich beide Male in die Klinik musste. Denn der 1. Aufenthalt dauerte ja 2 Monate, und die hätte mein Vater nie und nimmer allein auf der Insel ausgehalten ;) Zwar waren beide Rentner, aber er hätte eben auch keine 2 Monate in L mit verbracht. Dazu hängt er einfach zu sehr an seinen eigenen Gewohnheiten :) Also habe ich Sohn II für 2 Monate auf dem Inselgymnasium angemeldet und er sagte später, dass das ne geile Zeit dort war ;) Die zweite Reha dauerte nur 3 Wochen, da blieb die Mama in meinem Zuhause bei meinem Jungen und nahm ihn dann über die Weihnachts- und Jahreswechsel-Tage mit auf die Insel. Ich hatte beide Male das "Glück", zu Weihnachten/zum Jahreswechsel in die Klinik zu kommen. Weil zu der Zeit die wenigsten Patienten Bock drauf haben. Aber ich wollte ja "weiter", ich wollte ja vorwärts kommen. Also habe ich in den bitteren Apfel gebissen damals. Aber sonst.. Oblag alles nur mir. Immer. Und das wurde irgendwann dann schon auch mal anstrengend. Heute (aber auch nicht nur heute) bin ich stolz auf meine beiden Hasen. Was aus ihnen geworden ist und wie sie ihren Weg gehen. Nein, ich bin mega stolz. Dafür brauchts auch kein Diplom.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Ursula, ganz ehrlich? Clara ist vermutlich meine bisher treueste Kommentatorin, aber Du bist diejenige mit den persönlichsten Zeilen. Ich glaube, es gab hier noch niemanden, der so wunderbare und persönliche Kommentare schreibt. Ich mag und ich schätze das sehr!! Weil es mir auch ein Stück von Euch zeigt. Und hier insbesondere von Dir.

Dieses Bestreben, es jedem recht machen zu wollen, hat auch mich ganz viele Jahre begleitet. Ich kann nicht mal sagen, warum das so war. Möglicherweise hing es damit zusammen, dass mir nie einfach so mal was in den Schoß gefallen ist. Alles musste ich mir erkämpfen. Selbst das Gefühl von Liebe. Mich begleitete immer das Gefühl, wenn ich nicht ausreichend gebe und tu, dann bin ich es auch nicht wert, dass man mir etwas zurückgibt, und sei es eben das Gefühl von Liebe. Es hat auch nach dem Ende der Ehe einige Jahre gebraucht, um mich selbst aus diesem Muster herauszuwinden, dieses Gefühl hinter mir zu lassen. Ich lebe also heute mit einem wesentlich besseren, weil freierem Gefühl.
Und ich habe die Feststellung gemacht, dass Menschen gegangen sind, weil sie sich nunmehr vor den Kopf gestoßen oder nicht mehr genügend beachtet/ geliebt gefühlt hatten.
Ja, das schmerzt. Aber so weiß ich heute, was wirklich echt war und was nicht.

Grit hat gesagt…

Zu den Menschen mit der gehörigen Portion Gelassenheit gehöre ich nicht. Ich tendiere eher in die Richtung Ihres Mannes, der vorhandene Plan wird bis zum bitteren Ende durchgeführt.
Viele Grüße, Grit.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Grit, es ist auch gut so, dass wir alle verschieden sind :)