Donnerstag, 19. März 2020

Kein Entkommen

Ich soll mein Leben ordnen, hatten sie gesagt.
Ich soll Stress reduzieren, hatten sie gesagt.
Ich soll Nein sagen lernen, hatten sie gesagt.
Ich soll mich abgrenzen lernen, hatten sie gesagt.

Mein Leben habe ich erstmals aktiv geändert, als ich im Januar 2003 aus der ehelichen Wohnung auszog und drei Jahre später endlich die Scheidung durchsetzen konnte. Für mich gab es von Anfang an kein Zurück, das Thema war zumindest für mich endgültig vom Tisch.
In schier endlosen Therapiesitzungen arbeitete ich nicht nur die Ehe und den Rosenkrieg auf, sondern auch Dinge, die noch sehr viel länger her waren. Man spürt nicht sofort die Erleichterung. Oder dass sich etwas (ver)ändert. Das kommt erst mit der Zeit, mit den Jahren.

Ein weiteres Mal änderte ich mein Leben mit meiner Entscheidung, von L nach M zu ziehen und überwiegend nur noch im Home Office zu arbeiten.

Beide Entscheidungen haben ziemlich tief in mein jeweils bisheriges Leben eingegriffen - und beide Entscheidungen habe ich nicht eine einzige Sekunde lang bereut. Im Gegenteil.

Mittendrin, okay, relativ am Anfang dieses neuen Lebens ist mir die Schmerzgeschichte passiert. Den Auslöser bestreitet niemand. Diese Infektion mit Bakterien. Was mir nur seither immer wieder geschieht, ist, dass es eben nicht sein kann, dass der Körper auf der linken Seite immer noch schmerzt. Seit dem Februar 2005 jeden einzelnen Tag, jede Minute, jeden einzelnen Augenblick. Wobei, ne, ganz so ist es nicht. Seit Februar 2005 hat der Körper komplett geschmerzt. Nach der Behandlung mit zwei verschiedenen Antibiotika schmerzt er nur noch links. Ob das einen Unterschied macht? Für mich schon. Weil rechts mich daran erinnert, wie das Leben vor dem Schmerz war. Weil rechts mich mahnt: Gib nicht auf, mach alles, dass es wieder gut wird.

Es ist doch behandelt worden, haben sie gesagt.
Es ist doch alles untersucht worden, haben sie gesagt.
Da ist nichts mehr, haben sie gesagt, und wenn es jetzt noch weh tut, dann liegt es an Ihnen.

Das habe ich so oft gehört, dass es mir zu den Ohren rauskommt. Manchmal habe ich vor Enttäuschung geweint. Manchmal habe ich vor Wut irgendwas vom Tisch gefegt. Manchmal habe ich etwas zu diesen Einschätzungen gesagt. Meistens aber habe ich es hingenommen und das gemacht, was sie sagten: Kümmer dich um deine Seele. Lerne, es auszuhalten. Lerne, damit zu leben.



All das habe ich gemacht. Nachweislich und aktenkundig. Und vor allem erfolgreich. Manche haben gesagt "Sie sind schon da, wo wir die Patienten hinhaben wollen. Noch mehr können wir Ihnen nicht beibringen."
Manche haben in ihren Bericht geschrieben, dass sie die psychosomatischen Aufnahmediagnosen geändert haben zugunsten einer somatischen Störung, von der man nur noch nicht weiß, was die Ursache ist.
Das habe ich markiert, bevor der Doc und ich alle Unterlagen an das Zentrum für seltene Erkrankungen in Leipzig übermittelten. Das einzige, das das Zentrum nicht wissen konnte, ist, dass mir der im Januar verordnete Cortisonschub tatsächlich spürbar half. Nicht nur schmerzmäßig. Auch einige der deutlichen neurologischen Auffälligkeiten sind seitdem so gut wie weg. Ein Wahnsinnserfolg, fand ich. "Das ist DER Hinweis auf eine Infektion im Nervensystem", bestätigte mein Doc. Und fragte, ob ich denn von Leipzig schon was gehört hatte. Das war letzten Freitag. Nein, hatte ich bis dahin nicht.

Hatte ich Hoffnungen? Wenn ja, worauf? Oder hätte ich es wissen müssen?

Heute war der Brief aus Leipzig in der Post. Nur wenige Zeilen, mit denen sie mir alles Gute wünschen und davon ausgehen, dass laut den vorliegenden Unterlagen "alle einschlägigen, derzeit verfügbaren Methoden gut ausgeschöpft sind". Dass sie mir empfehlen, vielleicht doch die psychosomatische Klinik hier in M aufzusuchen. Und dass ansonsten noch eine Sarkoidose erwogen werden könnte, was aber aufgrund des einseitigen Schmerzmusters und dem sehr langsamen Verlauf eher untypisch sei.
Den Brief habe ich in die Ecke geworfen und dann habe ich ziemlich bitter geweint. Nicht aus Frust, nicht aus Wut. Einfach nur.. aus Enttäuschung.

Der Mann hat mich in die Arme genommen und gesagt, dass ich trotzdem nicht aufgeben darf und soll. Denn dann würde ich all denen recht geben und alles wäre umsonst.
"Ist doch auch so umsonst", begehrte ich auf, "denn du siehst, ich komme einfach nicht weiter. Ich komme aus dieser verdammten scheiß Schublade einfach nicht raus."
"Aber die wissen nichts vom Cortison und wie dir das geholfen hat. Das wäre doch ein neuer Ansatz."
"Ich habe keinen Bock mehr", antwortete ich und meinte es auch so. "Wirklich, ich habe keine Lust mehr. Dann lebe ich eben weiter mit allem und wenns wieder schlimmer wird, nehme ich ein paar Wochen lang Cortison. Fertig."
"Das ist doch keine Lösung", sagte er.
"Natürlich nicht. Aber eine andere gibts nicht", antwortete ich und versetzte dem heruntergefallenen Brief nochmal nachdrücklich einen Fußtritt.

Das Klinikum mit der psychosomatischen Abteilung hier in M, an die ich mich wenden soll, ist übrigens die, die die vor zwei Jahren aufgetretenen neurologischen Ausfälle auf die psychische Belastung aufgrund des Umzugs von L nach M schiebt. Auf die ja doch einschneidende Änderung der Lebensumstände.
"Entscheidet euch doch mal, was ihr wollt", reagierte ich damals kopfschüttelnd. "Ich sollte mein Leben ändern und vor allem den Stress abbauen - und wenn ich das mache, findet ihr auch darin wieder einen Grund, mich in die Psychoecke zu schieben?"
Ja, fanden sie. Weil ein möglicher weitergehender Weg die Suche in der Genetik wäre, so der Assistenzarzt. Doch diese Suche ist vor allem eins: teuer. Er durfte das nicht entscheiden. Und der Oberarzt hatte mir wortwörtlich gesagt: "Man muss ja nicht gleich mit dem Teuersten anfangen. Man kann es ja auch erst mal mit der Psyche versuchen."
Unrecht hat er damit sicherlich nicht. Nur dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits ein paar Jahre erfolgreich Psycho-Streckbank hinter mir hatte. Erfolgreich, was Seele, Geist, persönliche Entwicklung und auch körperliche Energie betrifft. Nur "der Rest", der wurde nicht. Der Rest, für den ich eigentlich dort hingegangen war.
Aber wer weiß. Vielleicht verwächst sich das ja dann doch noch in den nächsten zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren.

Aber so wie ich das sehe, gibt es kein Entkommen.

Ich soll nicht pessimistisch sein, sagt der Mann.
Bin ich doch gar nicht. Ich bin realistisch.

10 Kommentare:

Grit hat gesagt…

Hallo Helma,
ich habe so gehofft für Sie und bin traurig und wütend zugleich. Trotzdem jetzt erst recht, nicht aufgeben! Wenn ich die ganz Tortur nicht schon selber erlebt hätte, wie ich Ihnen in einem früheren Post schon erzählte. Ich kann nach wie vor nicht verstehen, dass Schmerz, wenn man nicht gleich was findet, sofort in die Kategorie "Psyche" abgeschoben wird. Mit meiner HWS damals war es ganz genauso, bloß gut, dass ich mir nichts einreden lassen habe, von nichts und niemanden. Ich hatte Glück und einen erfahrenen Physiotherapeuten/Physio-Lehrer an meiner Seite, welcher mich Stück für Stück wieder fit gemacht hat. Ich sage immer, wenns mal ein wenig schwieriger wird als ein normaler Beinbruch oder so, wo jeder weiß, vom Medizinstudenten bis zum Facharzt,was er zu tun hat, siehste alt aus.
Ich wünsche Ihnen weiterhin alles erdenklich Gute!
Herzliche Grüße, Grit.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Ich kämpfe immer noch mit der Enttäuschung. Ich kann nicht mal sagen, dass ich eine Erwartung gehabt hätte - aber ich hatte Hoffnung. Aber eigentlich hätte ich es auch besser wissen müssen.
Das Zentrum gehört zur Uni Leipzig, die schon vor zehn Jahren meinten, dass es psychisch sein muss. Die werden sich nicht gegenseitig ins Bein hacken.
Damals, in Leipzig, da ist schon wirklich viel gemacht worden - nur ohne Ergebnis. Ich passte einfach nirgendwo rein. Irgendeiner sagte mal "Es gibt einige Erkrankungen, an die man denken müsste. Von jeder davon passt auch vieles zu Ihnen. Aber es gibt keine Erkrankung, wo alles passt."
Aber muss es das eigentlich? Je länger ich mich selber mit dem Thema befasste, desto mehr stellte ich fest, wie viele Erkrankungen es gibt, wo selbst die Symptome teils sehr unterschiedlich sein können.
Dass es unbedingt was Körperliches und nichts Psychisches sein muss, könnte man mir vorwerfen, würde ich mich nicht auch der Psyche gestellt haben. Aber das habe ich doch. Über mehrere Jahre. Was meine Persönlichkeit betrifft: mit wirklich großem Erfolg.
Nur was den Körper betrifft, da ist alles wie immer. Na ja fast - dank Cortison. Aber eine Dauerlösung ist das Medikament natürlich auch nicht. Inzwischen ist es komplett abgesetzt, die neurologischen Themen sind glücklicherweise kein Thema mehr - nur der Schmerz, der ist komplett wieder da. Wie immer. Und der Doc hat keine Ahnung, wie er weitermachen soll. Er hoffte auf einen "Fahrplan" von Leipzig. Doch den Zahn kann ich ihm mit dem heutigen Brief nun ziehen.

Juna hat gesagt…

Ach Mensch, so ein Kack. Ich drück dich mal feste.

Interessant ist, dass sie dir Sarkoidose als mögliche Diagnose mal eben so hinwerfen. Ich hab sie ja und das die diagnostiziert wird, ist ja mehr als ungewöhnlich. Gehört übrigens zu den seltenen Krankheiten und hat unzählige Gesichter. Die Diagnose hilft einem dann aber auch nur bedingt, weil man nur die Symptome behandeln kann und je nach schwere ist es dann eben die Cortsion Therapie oder auch MTX. Man weiß dann zwar, dass man sie hat, aber einen Arzt finden, der einen entsprechend behandelt - sehrrrr schwer. Fühl dich gedrückt und ja, manchmal ist es besser nicht weiter nach der Ursache zu suchen sondern die Behandlung zu nehmen, die wirkt. Vielleicht sprichst du mal mit deinem Doc darüber, der Sarko-Nachweis kann ziemlich einfach sein, sollte es doch so sein, wozu ja eigentlich deine Reaktion aufs Cortison passt, dann wüsstest du wenigstens wo es herkommt und dein behandelnder Doc könnte mit dir gezielter vorgehen. Und bei Fragen you knowst wär du mich erreichen kannst :-*

DrSchwein hat gesagt…

So ein Mist.

Anonym hat gesagt…

Einfach mal umarmen, Helma. Ich heule auch mit dir. Das kann ich gut.
1547 Grüße von der Suse😘

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Juna, ich glaube nicht, dass Sarkoidose zu mir passt. Irgendwie werden da ganz andere Symptome beschrieben. Aber heute gehts mir wieder besser und wenn ich Montag zum Doc gehe, werde ich ja sehen, was er sagt. Ich denke mal, wir belassens dabei und werden bei Bedarf immer mal Cortison probieren. Mehr geht wohl nicht.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Ja Herr Doktor, aber mächtig.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Suse, dass ich Dich hier nochmal sehen darf <3
Mir gehts heut wieder besser, die Enttäuschung ist überwunden, the Show must go on ;)
Trotzdem: Danke fürs Mitfühlen! :*

Anonym hat gesagt…

Vielleicht ans Meer. Ich könnte es verstehen. ❤️
Lg magenta

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Ja Magenta, Meer - das wärs! Eigentlich würden wir bald wieder ans Meer fahren, aber nun ist alles unsicher und auf den Kopf gestellt. Aber dann fahren wir eben später - Hauptsache, ich bin wieder dort <3