Montag, 15. Oktober 2018

15



 

Als ich am letzten Freitagmorgen die Taschen in mein kleines Auto lud und mich auf den Rückweg nach M machte, da schrieb ich dem Mann "..heute vor fünfzehn Jahren war übrigens genau der Tag, an dem ich mich zum allerersten Mal auf den Weg zu dir gemacht habe."
Damals wussten wir, was hinter uns lag, wir wussten nur nicht, was vor uns lag - aber das hat mich auch nicht wirklich gekümmert. Was für mich zählte, war der Moment (genau genommen ist das bis heute immer noch so) - und jenes Wochenende zählt für uns beide zu den wunderbarsten, die wir je miteinander teilten. Wohl nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass es unsere allererste Begegnung war und dieses zugleich erste Wochenende zu den noch unbeschwertesten Wochenenden zählte.. 

Ich schau dann und wann gern zurück - weil mir dann umso bewusster wird, wo ich heute stehe. 
Aufrecht. Ungebrochen. 
Es sind diese Abende, die ich so liebe.. An denen ich mich in die Musik einhülle, an denen ich mich von der Musik einfangen lasse, so dass jeder Zentimeter in mir im Takt der Musik vibriert, ich liebe es so sehr, mich leichtfüßig durch die Räume zu bewegen, mich im Klang der Musik zu baden und darin zu bewegen.. Ich liebe es, mich in meinem Inneren so unfassbar frei und losgelöst zu fühlen, und ich liebe es umso inniger, wenn ich daran denke, wie so ganz anders mein Leben vor über fünfzehn Jahren gewesen ist. Und heute kann ich daran denken, so wie es mir beigebracht worden ist: Ich schau es mir an wie alte Fotografien, zu denen ich keine Verbindung, keinen Bezug mehr habe. Und dann lege ich sie zurück in diese alte, abgegriffene Kiste, die ich zuklappe und wegstelle, in die unterste Reihe meines Bewusstseins. Ich kann mein Denken und Fühlen auf das Jetzt und Hier zurücklenken und das tun, wonach mir ist, ohne mich schlecht fühlen zu müssen. Ohne Angst haben zu müssen. Ohne mich fragen zu müssen, wie lange der Frieden besteht, nur für den Moment oder ist es schon am Abend wieder vorbei. Heute öffne ich morgens die Augen und frage mich, was dieser neue Tag für schöne Dinge bereithält - nicht nur für mich, auch für die Menschen draußen vor der Tür und insbesondere für die Menschen, die mir wichtig sind. Der Tag beinhaltet für mich keine Last mehr, keine Pflicht, die ich mit Widerwillen erfülle. Weil ich einfach wieder Spaß an dem habe, was ich tue. Okay, die Steuererklärung gehört jetzt vielleicht nicht zu meinen bevorzugten Aktionen - aber auch das geht mir heute so viel leichter von der Hand, weil ich keine Erwartungen mehr zu erfüllen habe. Weil egal geworden ist, wie das Ergebnis ausfällt - und ich mir dennoch nicht sagen lassen muss, dass ich einfach zu gar nichts tauge. 

Ich liebe es, überhaupt niemandem beweisen zu müssen, ob ich liebenswert bin oder nicht. Darüber denke ich einfach gar nicht nach - und muss es auch nicht, weil ich nicht mehr bei jeder Gelegenheit vorgeführt bekomme, dass man jemanden wie mich so gar nicht lieben kann. 
Heute kann ich einfach der Mensch sein, der ich im Grunde genommen immer gewesen bin - und je mehr die Zeit vergeht, desto mehr.. werde ich irgendwie der Mensch, der ich immer werden sollte.
Ein wenig wie meine Mama, ein wenig wie mein Papa, auch ein wenig wie meine Großmutter - und ganz vor allem.. ICH. Ich, die es heute wieder so liebt zu schreiben, das Spiel mit dem Wort. Bilder in den Kopf zu zaubern, die ich sehen möchte, die ich fühlen möchte, mir mein ganz ureigenstes Königreich zu errichten..
Manchmal erinnere ich mich, wie ich voller Sehnsucht in den einsamen Zeiten durch die Welt, durch die Straßen strich, die Arme ausgebreitet, die offenen Haare im Wind, die Musik in den Ohren - und dann sah ich sie, die Frauen mit ihren herabhängenden Mundwinkeln, die Männer mit ihrem verkniffenden, mürrischen Gesichtsausdruck und den frustriert in den Taschen vergrabenen Händen. Ich sah sie, ich nahm sie wahr - und wann immer ich sie sah und ohne sie jemals bewerten zu wollen, schwor ich mir: "So möchte ich nie niemals aussehen.. So möchte ich nie niemals sein.. Ich möchte niemals neben dir gehen, sondern mit dir.. Ich möchte niemals an deiner Seite an jemanden anderen denken, mich an einen anderen Ort, zu einem anderen Menschen wünschen.. Glückliche, erfüllte Momente möchte ich mit dir erleben, mit dir leben; ich möchte, dass du es bist, für den ich ein Abendessen zubereite, und dabei singen, laut, leise, falsch - aber immer hingebungsvoll.. Weil ich all das nicht tun muss, aber tun möchte.."

Ich bin nicht dankbar für alles in diesen 15 Jahren.
Aber ich bin ganz sehr dankbar, dass wir die schwierigen Zeiten ausgehalten haben.

Ich möchte nie mehr ein Leben so wie früher führen, ich möchte auch niemals mehr ein unerfülltes Leben führen. Da lieber lebe ich alleine - und ich weiß, dass ein Leben mit mir allein auch erfüllt wäre. Weil ich heute weiß, wie ich es fülle und dass ich es füllen kann.

Es gibt einen Anfang und es gibt ein Ende. Das gibt es immer. Man weiß nur nie vorher, wie viel Zeit man dazwischen hat. Man sollte nur eine möglichst glückliche Zeit dazwischen haben. Das ist man sich selber schuldig, zuallererst.

4 Kommentare:

Edelnickel hat gesagt…

Was für ein schöner Text! So wholesome, wie man jetzt sagt.

Bringt mich aber auch zum Nachdenken über meine Vergangenheit, über meine aktuelle Situation und über meine Zukunft.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Wie sagt man jetzt?? Wholesome? Hab ich noch nie gehört - Frau Nickel, ich bin doch schon etwas älter :)
Hier wünsche ich Dir erstmal wirklich gute Besserung, das klingt ja nicht gut, was Du über Dich schreibst. Seit ich vor vier Jahren umgezogen bin, ziemlich weit weg von der Arbeit, und die meiste Zeit von daheim aus arbeite, ist mein Immunsystem sehr viel stabiler geworden. Zwar würde der Mann jetzt die Augenbrauen heben, jedoch die aktuelle Geschichte.. hat wohl eher andere Ursachen ;)
Unter dem Strich jedenfalls geht es meiner Seele so sehr viel besser als noch vor 10 - 15 Jahren. Und dafür bin ich sehr, sehr dankbar. Und immer wieder froh, meine Wege gewählt und auch gegangen zu sein. Einfach war das weiß Gott nicht. Aber ich hatte einen Vorteil: Ich war allein, aber nicht einsam. Ich für mich stelle es mir ganz schlimm vor, innerlich tot zu sein und an nichts mehr Freude haben zu können. Jedoch das wäre mir passiert, wäre ich da geblieben, wo ich vor 16, 17 Jahren noch war.

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Du ohne deine Musik, deine Söhne und deinen Mann - was bliebe dann noch von Helma Ziggenheimer übrig? Fast nichts oder gar nichts?
Lieben Gruß

Dragonfly hat gesagt…

Ermutigend schön :-)

Danke!