Donnerstag, 11. Oktober 2018

Der Traum von einem anderen Ort

Bildquelle: https://weheartit.com/entry/44696165

Als ich noch ein Kind war, sagte man von mir, ich hätte eine ausgeprägte Phantasie. Ich konnte mir die dollsten Geschichten ausdenken und sie derart überzeugend vortragen, dass man sie mir glaubte.
Ich glaube, damals wie heute habe ich mir meine Welt zurechtgebastelt, wie sie sein musste, damit ich mich darin wohlfühlte. Ich habe nicht nur in echt auf einer Insel gelebt, sondern auch in meinem Kopf. Schon als Kind habe ich mich irrsinnig in die Musik verliebt, und heute weiß ich auch, wieso. Weil die Musik, wenn es die richtige ist, in mir etwas berührt. Weil sie eine Saite berührt, die etwas in mir zum Erklingen bringt. Die meine tiefsten Sehnsüchte hervorbringt, damals wie heute.

"Bist du wirklich das Kind deiner Eltern?" hatte mich vor vielen Jahren eine Schulfreundin gefragt. "Du bist so ganz anders als deine Familie."
"Wahrscheinlich bist du ein Findelkind. Angeschwemmt wie Treibgut", schreibt die kratzige Stimme aus Hessen und ich muss lachen und zugleich denke ich "Ich weiß, dass es nicht so ist, natürlich nicht - aber es fühlt sich schon manchmal irgendwie so an."
Dann wieder denke ich, dass in mir vermutlich ganz sehr viel von meiner Großmutter steckt, ob das nun gut ist oder weniger, das ist mir zweitrangig.
Ich glaube, dass ich wie sie mir früher kaum Gedanken um irgendwas gemacht habe. Wir haben gelebt und gefühlt wie wir es für richtig hielten, und wir sind unseren Weg gegangen, auch wenn der nicht immer geradlinig war. Er musste nicht zukunftsweisend sein - er musste nur in genau DEM Moment zu uns passen.
Und ich glaube, so denke und so fühle und so lebe ich zum großen Teil auch heute noch. Ich habe keinen Masterplan für die nächsten 20 Jahre, ich habe nicht mal einen Plan, wo ich in diesem Jahr an den Weihnachtstagen sein möchte. Der Mann beklagt das oft, während ich denke.. "Lass mich doch so sein wie ich bin.. Pläne zu haben macht sooo unflexibel... Und während du haderst, wenn was nicht gelingt, pfeife ich ein Liedchen, weil ich denke: OK, so rum gings nicht, na gut, dann eben anders rum."

Ich kann nicht immer da sein, wo ich am liebsten sein möchte. Ich kann nicht immer das Leben führen, das ich mir vorgestellt habe. Ich kann nicht so leben wie ich es mir erträumt habe.
Aber immer dann, wenn ich die Musik aufdrehe, in dem Moment, wo ich mir abends, nachts die Kopfhörer aufsetze, dann bin ich genau da, wo ich sein möchte..
Barfuss auf dem Holzfußboden und den weiß getünchten Mauern mit den Holzregalen voller Schallplatten und Büchern.. Vor dem Fenster das Meer, das Fenster, das ich nachts öffne und darauf lausche, was das Meer erzählt.. murmelnde Seefahrergeschichten, die heimkommen zu ihren Mädchen.. mit ihrer wettergegerbten, braungebrannten Haut und den grobgestrickten Pullovern.. mit den lustig funkelnden Augen, wenn sie ihr Seemannsgarn ausbreiten..
Dann sehe ich mich in diesem reetgedeckten Haus am Meer, wo die Kornäpfel mit leisem Plumps ins Gras fallen und die ich jeden Tag einsammle, um mir ihren Geruch mit in das Haus zu holen..
Wo ich mich in das kleine Zimmer unter dem Dach zurückziehe, um zu schreiben, um zu malen, um ein Glas Weißweinschorle zu trinken.. Ich hätte einen Hund, einen großen schwarzen, so wie früher, als ich noch Kind war.. Ich hätte ihn nachts in meiner Nähe und tagsüber würde ich ihn hinaus in den Garten schicken und zum Mann würde ich sagen "Wenn du nicht willst, dass er abhaut, musst du den Zaun reparieren".. Nein stopp, Moment, es wäre andersrum.. ER würde sagen "Wenn du nicht willst, dass er abhaut, muss ich den Zaun reparieren".. Weil ich das vermutlich nicht mal bemerken würde.. Mich nur wundern würde, dass das Zotteltier mit einem Mal ausgebüxt ist.
Dann sehe ich, wie sie und ich dieses kleine Cafe hätten, dieses Cafe mit dem Bücherregal, mit dem selbstgebackenen Kuchen und den geklauten Tortenrezepten, die nie gelingen, wie sie sollten und trotzdem jeder ein Stück davon haben will..
Wir wären auf den Spuren meiner Familie.. Dem Teil der Niederländer und dem Teil der Franzosen.. Wir würden Karten ausbreiten und das Internet durchsuchen, wir würden die Länder bereisen und Menschen fragen.. Ich möchte es entdecken, ich möchte es herausfinden, ich möchte es sehen, ich möchte es betrachten und berühren.. auf den Spuren eines Lebens wandeln, das irgendwie zu mir gehört.. zu einem Teil meines Seins.
Am Ende.. sehe ich mich im Einklang mit mir und dem Leben, und es ist ein glückliches Leben, es ist ein erfülltes Leben, das in jeder Runzel meines Gesichtes steckt.. In den Augen, die hoffentlich wach bleiben bis zum Schluss..

Manchmal ist es egal, wo ich gerade bin.. Ich brauche nur die Musik und den Moment, in dem ich die Augen schließen kann.. Es dauert nur einen Wimpernschlag, um dort anzukommen.. und dann fühle ich nur noch.. und es fühlt sich verdammt gut an.

9 Kommentare:

waage0310 hat gesagt…

Schön...Gänsehaut...Danke für den Abend...Grüßle

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

:) Schlaf schön :)

amorsolalex hat gesagt…

Der Moment, als du schriebst, dass der Apfel ins Gras fällt. Ich hab es gehört beim Lesen, ich schwörs. :) Wunderbare Vorstellung, die du da beschrieben hast. Ich wünsche, dir dass du in nicht allzu langer Zeit einiges davon schon leben kannst und zumindest das Meer vor der Türe hast.

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Ob ich "Helma" sage oder ob ich "Poesie" sage - heute ist es für mich ein und das gleiche.
Ich wünsche dir sehr, dass nichts und niemand deine Träume zerstört.

Hedi hat gesagt…

Es gab hier bei uns vor Jahren mal ein winzigkleines, reetgedecktes Haus am Strand..ich ging oft daran vorbei und wünschte mir, ich könnte dort wohnen...ich säße dort an einer Schreibmaschine sitzen und Geschichten schreiben und wäre eins mit mir.....
Jahre später wurde dieses entzückende Haus, wie auch ein etwas größeres dem Geld geopfert. Eine Investorengruppe behauptete, dort bauen zu wollen. Bis heute, ein Jahrzehnt (!!!) später, steht dort nix, dafür wurde auch das bißchen Wald gerodet, das den Strandweg von der Straße trennte....
so unnötig...
daran musste ich denken, als ich deine Zeilen las....
Und daran, dass man mir als Kind nur einen Satz zurufen musste, und ich sponn eine Geschichte darum....
Du bist nicht zufällig auch Fisch? bytheway?

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe K., ich hab nicht mal den Anspruch an ein bestimmtes Meer. Hauptsache, es ist eins :)
Insofern.. sollte das doch zu machen sein, eines Tages. Und hoffentlich nicht zu spät.

Liebe Clara, oh ja, das wünsche ich mir auch!! Und zu Deinem Kommentar passt das Zitat, das ich irgendwo mal las "Wirklich reich ist der, der mehr Träume in seiner Seele hat, als die Realität zerstören kann." Ich glaub wirklich, dass da was dran ist. :)


Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Hedi, ich könnte mich stundenlang erbrechen, wenn ich so etwas lese. Hauptsache, erstmal dem Profit geopfert. Das kotzt mich wirklich an.
Und nein, ich bin kein Fisch, sondern im Sternzeichen Zwillinge geboren. Aber im Aszendenten die Waage (ein Feingeist ;)) und mit dem Mond in den Fischen, was für eine tiefe Gefühlswelt sprechen soll ;)

Anonym hat gesagt…

"Ich kann nicht immer da sein, wo ich am liebsten sein möchte. Ich kann nicht immer das Leben führen, das ich mir vorgestellt habe. Ich kann nicht so leben wie ich es mir erträumt habe.
Aber immer dann, wenn ich die Musik aufdrehe, in dem Moment, wo ich mir abends, nachts die Kopfhörer aufsetze, dann bin ich genau da, wo ich sein möchte.."


Ich hab' auch Gänsehaut Helma. Zart, traurig und wunderschön. Und ich kann mitfühlen, wie es ist, nicht das Leben führen zu können, dass man sich erträumt oder erhofft hat. Dein Seelenleben ist wunderschön.

Dies und Jenes hat gesagt…

Hallo,

ja genau hauptsache Meer ich hätte auch keine großen Wünsche wo.... Ostsee oder Nordsee wären völlig ausreichend.

LG Ursula