Dienstag, 29. Januar 2019

"Die Würde des Menschen ist unantastbar"

Daran denke ich oft, wenn ich sie sehe, sitzend an der Wand gelehnt, schlafend in Hauseingängen, oft einen Wagen mit ihren Habseligkeiten nach sich ziehend oder in Plastiktüten neben sich stehend.
Ich denke auch oft an meine Mum, mit der ich vor vielen Jahren durch die Einkaufsstraßen von L zog - und sie mit einem Mal in Tränen ausbrach "Es tut mir leid, aber ich kann da einfach nicht vorbeigehen." Und dann ging sie zurück und legte dem alten Mann ihre letzten Münzen in den Pappbecher.
Auf der Insel, auf der sie immer noch lebt, bekommt sie die Menschen nur selten zu sehen. Wenn denn überhaupt. Damals wie heute.
"Dein Papa ist ein typisches Nachkriegskind", sagte sie mal zu mir. "Die mussten lernen zu überleben, an sich zu denken. Bis heute schaut er nicht über den Tellerrand."
Aber du musstest das doch auch, dachte ich, ihr wart sieben Kinder, nicht nur drei.
"Ich kann das nicht", sagte sie damals. "Wir hatten auch nicht viel. Aber wir haben immer geholfen und immer geteilt."

Als ich heute Abend das Haus verließ, hatte ich es eilig. Der Mann wartete auf mich irgendwo am Supermarkt. Oder im Supermarkt - hoffte ich.
Ich sah den alten Mann wieder dort an der U-Bahn sitzen, kaum dass ich um die Ecke kam. Schmutzig, verwahrlost, eine alte schmutzige Decke auf den Knien, irgendwelche Tüten neben sich.
Er erkannte mich wieder, winkte mir, lächelte. Ich lächelte zurück, eilte in den Bäckerladen neben ihm, kaufte einen Becher heißen Tee und überlegte wie jedesmal, was ich ihm zu essen mitnehmen könnte. Wir sprechen nicht dieselbe Sprache, ich weiß nicht, woher er kommt und was seine Kultur ihm erlaubt zu essen.
Wieder raus vor die Tür, zu ihm geeilt, mich vor ihn gehockt, den Becher in seine Hand gegeben.
"Vorsicht, heiß", bedeutete ich ihm.
Er sagte etwas, das ich wieder nicht verstand. Aber wir lächelten einander an.

Als ich zur Straße eilte, lief ich prompt Herrn Blau direkt in die Arme.
"Du hast dem jetzt nicht wirklich Geld gegeben, oder?"
Scheiße. Ach Scheiße. Warum war er nicht wie sonst schon in den Markt gestiefelt?
"Ich dachte, du wartest im Supermarkt auf mich?"
"Nein. Ich warte hier seit zehn Minuten und du lässt mich hier frieren wegen der Bettlerbande? Wann lernst du endlich, dass die alle zur Mafia gehören?"
Ich schob meine Hand in seine.
"Er sieht nicht aus wie einer von der Bettlermafia", sagte ich. "Außerdem habe ich ihm nur etwas zu essen und einen Tee gebracht."
"Das ist egal. Es ist schade um jeden Cent bei denen."
Da krampfte sich in mir etwas zusammen.
Vielleicht hat er recht, der Herr Blau. Vielleicht aber irrt er sich auch. Ein Mensch ist.. ein Mensch, nicht mehr und nicht weniger.
"Für die wird gesorgt, da musst du dir keine Gedanken machen!"
Ich schaute zurück zu dem alten Mann.
Vielleicht hat er recht, der Herr Blau. Meinem Bauchgefühl nach aber.. kümmert sich niemand um diesen alten, schmutzigen Mann mit seinen paar Habseligkeiten.

Er hatte mich gewarnt, damals vor über zwei Jahren, als wir uns auf den Weg nach Indien gemacht hatten. Selbst Inder warnen vor der Bettlermafia, die ihren Kleinstkindern mit Opium getränktes Wasser zu trinken geben, damit sie die meiste Zeit über schlafen, während sie sie herumtragen und mit ihren Fingerspitzen an die Autoscheiben klopfen. Tok Tok Tok - bis heute verfolgt mich dieses Geräusch. Verfolgt mich der Anblick ihrer winzigen Beinchen, kaum dicker als der Daumen des Mannes, die kleinen Fußsohlen kaum größer als ein Fingerglied.
"Ich weiß, das ist schwer, grad bei Kindern", sagte Herr Blau. "Aber wenn du einmal damit anfängst, wissen sie, dass sie zu dir kommen können. Dann kommen immer mehr und du wirst sie nicht mehr los. Aber du kannst sie nicht alle retten."

Kinder und alte Menschen.. Die wehrlosesten unter uns.

Ich weiß, ich kann sie nicht alle retten. Das versuche ich auch gar nicht. Aber ich bin wie meine Mama. Ich kann nicht einfach so an ihnen vorbeigehen. Wir mit unserem ordentlichen, warmen Zuhause, den dicken Wintersachen und dem Essen auf dem Tisch.

8 Kommentare:

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Ich bin so viel mehr auf deiner Seite, liebe Helma. Bei den mit Kindern bettelnden Frauen bin ich allerdings auch vorsichtig - aber normale Obdachlose gehören bestimmt nicht dazu - vor allem, wenn sie dürftig bekleidet in der Kälte sitzen. Das machen die von der Mafia nämlich nicht.
Der Herr Blau kommt hier nicht sehr gut weg - zumindest nicht nach meinem Gefühl.
Dort, wo ich Doko spiele, sitzt manchmal eine junge Frau im U-Bahn-Ausgang. Der habe ich auch schon Kaffee und Kuchen geholt - zur Auswahl und sie hat sich sehr gefreut.
Drück dich!

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Clara, Herr Blau ist wirklich hilfsbereit - aber er möchte, dass das, was er gibt, auch wirklich ankommt. Deshalb spendet er an die Tafel. So wie ich.
Er war zB erschüttert, als er erfuhr, zu welchen Preisen das Spendenblut verkauft wird. "Ein Riesengeschäft - aber das sollte es an dieser Stelle gar nicht sein", hat er gesagt. Oder dass die Klamotten aus den Spendencontainern verkauft werden. "Warum verteilen sie es nicht einfach an die Bedürftigen?" hat er gefragt. "Wieso verkaufen sie etwas, das sie selber geschenkt nehmen?" Jetzt könnte man sagen: Okay, die Unterhaltung der Container, die Abholung, die Sortierung und Ausgabe, das kostet auch Geld. Aber dieser Verein mit diesem roten Emblem kommt schon seit vielen Jahren bei mir nicht mehr gut weg - aus verschiedenen Gründen.
Und mir ist auch bewusst, dass nicht jeder Bettler ein "echter" Bettler ist.
"Du siehst das daran, dass sie ihr Hab und Gut immer bei sich haben", sagt Herr Blau.
Der alte Mann an der U-Bahn hatte irgendwelche Tüten bei sich. Nicht viel. Aber vielleicht hat er auch gar nicht mehr als das?? Immer wenn ich ihm was zu essen und den Tee bringe, zeigt er auch auf seinen Geldbecher. Natürlich weiß ich, dass sie bereits "Erworbenes" in ihren Taschen verschwinden lassen. Ist das Berechnung? Oder einfach nur die Tatsache, dass der Mensch den Menschen kennt und weiß, dass wenn andere tun, sie sich selbst nicht mehr bewegen?

Anonym hat gesagt…

Helma, ich bin ganz bei dir!
Hab mal einen Bericht über einen Ehemaligen gesehen. Er schämte sich sehr die Grundsicherung zu beantragen, weil die Leute im Amt sich von seinem Geruch abwanden. Dann wurde der Antrag abgelehnt wegen "ohne festen Wohnsitz". Er war sehr depressiv und hatte keine Kraft und zog sich wieder auf die Straße zurück. Das muss sehr schwer sein, wenn man da mal drin ist.

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Helma, das mit der Tafel mache ich in gewisser Weise auch - bei Netto kann man das Pfandgeld als Spende dort lassen - und das mache ich immer.
Ich habe auch ein Buch gelesen von einem ehemals Obdachlosen, der ca. 20 Jahre auf der Straße gelebt hat. Es war für mich einfach erschütternd.
Ich freue mich auf den Monat mit J am Anfang.
Lieben Gruß

Anonym hat gesagt…

Find das auch komisch, wenn man die Kleiderspenden weiter verkauft. Nix dagegen, wenn man kaputte Sachen z.B. zu Matratzenschonern recycelt. Aber das ist ja mittlerweile eine komplette Industrie. Finds auch net gut wenn man Tafeln, Ehrenamtliche und Co. überlastet. Da sollte es mehr Hilfen geben, die nicht von Spenden abhängig sind.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Katze, ja, das habe ich auch schon öfter gehört, das mit der Scham. 2006 musste ich selber mal aufs Amt - um die damalige Firma anzumelden, die in Deutschland eine Niederlassung eröffnete (leider nur für ein Jahr). Damals dachte ich auch: Wenn ich hier sitze und Geld oder gar Hartz IV beantragen müsste... Ich würde mich so ganz anders fühlen. Und da ist das noch nicht mal vergleichbar mit denen, die gar nichts mehr haben.
Inzwischen kann man fast alles online erledigen, wofür ich echt dankbar bin, nicht allein der Scham wegen, aber weil die Dinge jetzt viel weniger aufwendiger sind und die Prozesse zügiger laufen.
Dass Obdachlose ohne festen Wohnsitz keinen Anspruch auf Unterstützung haben, habe ich auch schon mehrfach gehört. Einerseits vielleicht nachvollziehbar - andererseits: Wie soll der Mensch dann überleben??? Wovon soll er leben und wie soll er überhaupt einen Wiedereinstieg schaffen? Ich bin schon froh, dass ich nicht über solche Dinge entscheiden muss. Nicht über Menschen und Schicksale.

Nieselpriem hat gesagt…

Oh, wie rührst du mich... Und Indien. Ich kann dort niemals hin, weil mir dort das Herz schier brechen wird und ich sie eben nicht alle retten kann. Danke für Deine Worte.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Rieke (darf ich das sagen?? Ich les ja schon lange bei Dir mit und las dort Deinen Namen :)) - herzlich willkommen bei mir und lieben Dank für Deine Worte!
Und ja, Indien ist in der Hinsicht sehr schwer zu ertragen. Jeder wünscht sich, mal im Lotto zu gewinnen - und noch in Indien sagte ich zum Mann, dass ich mit all diesem Geld Einrichtungen für Kinder betreiben würde. Wo sie baden können, spielen, essen. Grad diese kleinen Kinder, wirklich, das war für mich echt schwer. Ein etwa 5Jähriger soll nicht auf großen Straßenkreuzungen herumlaufen, um Geschirrtücher zu verkaufen. Kinder sollen nicht bei der Hitze durstig im Schmutz liegen.
Auf dem Land übrigens, außerhalb der Städte, da war das anders. Die Kinder haben gespielt mit Stöcken, Pfauenfedern, die waren fröhlicher und ausgelassen. Das hat mich an uns früher erinnert, als wir noch kleiner waren.
Oft gesehen: Frauen, die im Straßenbau (!) arbeiten - indem sie Schutt und Asphaltreste in Metallschalen auf ihrem Kopf wegtragen. Bei ca 45 Grad..
Indien lehrt auch sehr viel Demut und Bewusstsein. Wenn ich nochmal da hinfliegen sollte, werde ich einiges anders machen. Egal, was der Mann sagt.