Donnerstag, 10. Oktober 2019

Einen Tag danach

Vor ein paar Monaten hatte der Mann mir aufgetragen, einen Einkaufszettel zu schreiben. Das ist bei uns für gewöhnlich nicht üblich. Also nahm ich einen kleinen gelben Zettel und malte ihm ein großes rotes Herz, das ich in unseren Einkaufskorb legte.
"Auch nett", sagte er, "aber was brauchen wir noch?"

Ja... Was brauchen wir? Was braucht die Welt?
Irrigerweise (ich weiß gar nicht wieso) erinnerte ich mich gestern Nachmittag an diesen Zettel, an die eigentliche Aussage dahinter, als Berichte über Schüsse in Halle durch die Medien kursierten und sich auch Meldungen häuften, dass einer oder mehrere Täter nach Leipzig flüchten würden. Dass dort teilweise Straßensperrungen errichtet worden waren.
Eine Unruhe überkam mich, solange ich im Office festhing.
Und ich erinnerte mich an die Schießerei damals in München im bzw. vor dem Einkaufszentrum. Da, wo der Mann oft auch zu Mittag essen geht. Ich erinnerte mich, dass ich Tage zuvor ein so dumpfes Gefühl im Körper hatte, so als ahnte ich, dass irgendetwas passieren würde. 

"Bist du gut nach Hause gekommen?" fragt mich abends ein Freund.
"Ja", antworte ich, "du auch?"
"Ja", schreibt er, "aber es war Chaos, es ging nichts mehr."

"Wir überlegen, trotzdem aufs Lichterfest zu gehen", schreibt Sohn II und ich bitte ihn, es nicht zu tun. Auch wenn irre Nachrichten das Netz dominierten, die sich größtenteils als Fake-News herausstellten.
Sie sind trotzdem gegangen und ich bat ihn, mir wenigstens zu schreiben, wenn er mit seiner Freundin wieder gut in ihrem Zuhause angekommen ist. Das tat er.
Während ich für Sohn I etwas zu Essen zubereitete, wir über alles Mögliche redeten und irgendwas im TV sahen, das nichts mehr mit dem Geschehen zu tun hatte.

Doch was den ganzen Abend über in meinem Kopf und in meinem Bauch blieb, war ein dumpfes, drückendes Gefühl. Es ging mir nicht gut, und zunächst vermochte ich gar nicht zu begreifen, was da in mir vorging.
"Du darfst das nicht so an dich heranlassen", schreibt mir der Mann.
Er hat recht, ich weiß.
Aber es bedrückt mich. Es belastet mich, wie ein Mann einer Frau einfach so in den Rücken schießen kann. Mehrmals. Selbst als sie auf dem Boden liegt. Wie ein Mann einen anderen erschießen kann, der um sein Leben fleht "Bitte nicht!"
Ich kann nicht loslassen von der Erschütterung, welche Grausamkeit, welchen Hass Menschen umtreibt, die sich entschuldigen dafür, dass sie versucht haben, andere zu töten, aber die Technik mehr versagte als alles andere. Natürlich weiß ich, dass Gewalt existiert. Aber dieses Wissen verhindert nicht, immer wieder neu erschüttert zu werden. Und will ich mich an solche Nachrichten gewöhnen? Will ich tolerieren, dass Menschen Menschen töten? Dass Menschen Menschen Gewalt antun?
Hat die Frau gestern noch dieselbe Musik gehört wie ich?
Sich gefreut, dass es so warm und sonnig war?
Hat der Mann gedacht, ich geh mal zum Dönermann, diesmal ess ich im Lokal, trink noch ne Cola?
Gleichwohl erschütterte mich aber auch, wie verschiedenste, insbesondere Fake-News, Videos etc. durch die digitale Decke gingen und den Menschen extra potenzierte Unsicherheit verursachten.

Je länger mich dieses dumpfe Gefühl bedrückte, desto mehr verstand ich, warum es mich gerade hier so belastet.
In München fühlte ich mich irgendwie nie sicher. Woher das Gefühl kommt, weiß ich nicht. Es war eben so. Wenn der Mann eine Woche lang irgendwohin fährt, fahr ich nach Leipzig. Oder sonstwohin. Aber Leipzig.. Hier fühlte ich mich immer wohl und vor allem sicher. Das ist keine Frage des Verstandes. Es ist lediglich eine Frage des Bauchgefühls. Ich war mir irgendwie immer sicher... Was auch passiert, hier nicht... Nicht in Leipzig. Nicht in unserem schönen Leipzig.
Und gestern Abend realisiere ich nach und nach die Scheinsicherheit, in der ich mich wiegte.
Wie dumm, wie naiv das Gefühl war.
Wie dumm, wie naiv ich war.
"Es geht mir grad nicht gut", flüsterte ich am Abend.
Der Alltag heute hilft mir. Die gewohnten Abläufe im Office helfen mir. Dennoch.

Es ist nicht nur "woanders". Es ist jeden Tag überall.

Auch weil es in der Welt viel zu wenig Liebe gibt und immer zu wenig gegeben hat.

5 Kommentare:

Grit hat gesagt…

Guten Abend Helma,
unfassbar, fassungslos, ich finde keine Worte für so eine abscheuliche Tat. Nur tiefstes Mitgefühl für die Angehörigen der Getöteten, die nun ihr Leben lang eine schwere Last mit sich tragen müssen. Ihr Freund hat schon Recht, nicht alles so nah an sich herankommen lassen, auch das will gelernt sein, ich kann's auch nicht...
Herzliche Grüße, Grit.

Dies und Jenes hat gesagt…

wirklich unfassbar und immer wieder passiert es. Aber und ich muss jetzt gestehen ich schauen schon lange keine Nachrichten mehr an oder höre. Zwangsläufig kriegt man es ja mit im Gespräch, als Überschrift wenn man sein Laptop oder Handy aufmacht. Das ganz ehrlich reicht mir. Vieles macht mir Angst und Sorge. Niemand aber auch niemand hat aus all den vielen Kriegen etwas gelernt.

Ich finde es dafür umso schöner vom dem Zettel mit Herz zu lesen. Ich versuche mit an das Buch - das leben ist zu kurz für später - zu halten. Gelingt mir nicht immer. Ab und an sagt unser Konto Stopp ok aber es gibt ja auch noch Dinge und Sachen wo man unternehmen kann die kein oder nicht viel Geld kosten. Ab und an ans Meer oder spontan in meine Lieblingsstadt München und etwas drumherum in die Berge.

Liebe Grüße Ursula
PS: Dein Lied vom letzten Post hatte ungeahnte Folgen ich hab so ungefähr 1357 mal Lola Marsch ihre Lieder rauf und runter gehört....

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Grit, vielleicht möchte ich auch gar nicht in die Lage kommen, es nicht so nah an mich herankommen zu lassen. Was würde das dann im Umkehrschluss bedeuten? Dass man abstumpft? Dass man beginnt, immer mehr als "nun ja, passiert halt" hinzunehmen? Ich kann das nicht.. Ich will das auch irgendwie nicht. Wir haben - eigentlich - so ein wunderbares Leben, und es ist unser einziges. Eine zweite Chance gibt es nicht. Wenn es vorbei ist, ist es unwiderruflich.
Das einzige, das nicht mehr umkehrbar ist.
Der Typ wollte Juden erschießen. Und weil er das nicht schaffte, hat er wahllos Passanten getötet. Gestern las ich, unter anderem sei schuld, dass er (zu) viel vor dem PC gehockt und Kriegsspiele gespielt hätte. Schwachsinn. Meine Söhne zocken das auch (leider!!) - und die sind genauso erschüttert von den Ereignissen wie ich.

Liebe Ursula, ach Mensch, wenn ich von Dir lese, geht mir grad irgendwie das Herz auf. Hab vielen lieben Dank für Deine Worte. Vor allem über den letzten Satz musste ich schmunzeln. An sowas bin ich echt gerne schuld :)
"Das Leben ist zu kurz für später" kenne ich zwar nicht, aber hinter der Frontscheibe meines kleinen Schwarzen liegen zwei Postkarten. Auf der einen steht "Das Leben ist zu kurz für Knäckebrot" und man sieht, wie eine Frau ihr Gesicht in einer Torte vergräbt. Das könnte ich sein! Optisch und auch sonst :)
Ansonsten hast Du recht, wenn man zuviel Nachrichten schaut oder liest, macht einen das bekloppt. Von der Schießerei in Halle erzählte eine Kollegin, deren Mutter ihr über whatsapp geschrieben hatte.

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Ein "WARUM???" wird nie eine Antwort bekommen, die du, die ich und die noch viele, viele andere Menschen verstehen würden.
Der Hass auf andere - fast schon egal auf wen - ist unfassbar und fast überall. Da nutzt es nichts, dass ich mir eine andere Welt wünsche.
Ganz lieben Gruß zu dir, liebe Helma

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Das stimmt, Clara, darauf gibt es auch keine Antwort.
Ich kann auch nicht verstehen, was da so schiefläuft bei den Leuten. Ein Mensch ist ein Mensch - egal, wo er geboren wurde. Keiner ist besser, keiner schlechter - alle sind gleich. Jedenfalls in dem Moment, wo man auf die Welt kommt :(