Freitag, 24. August 2018

Remember All The Time





"Wenn uns die Menschen, die wir lieben, genommen werden, können wir sie trotzdem behalten, indem wir nie aufhören, sie zu lieben. Gebäude brennen und Menschen sterben, aber die wahre Liebe hält ewig."
ein Filmzitat, ich weiß nur nicht, aus welchem



Manchmal, wenn ich jemanden arg vermisse, dann bin ich froh, wenn etwas von dem Menschen bei mir ist. Das Shirt mit dem Geruch des anderen. Dinge des anderen, die vergessen wurden mitzunehmen oder die mir überlassen wurden..

Letzte Nacht träumte ich von meiner Großmutter. Und als ich erwachte, dachte ich daran, dass es inzwischen 30 Jahre sind, die sie nicht mehr da ist.
Es war noch ganz früh am Morgen, weit vor dem Klingeln des Weckers, also streckte ich müde die Beine aus, verschränkte die Arme unter dem Kopf und schaute auf den langsam beginnenden Morgen. Ich dachte an sie, ich dachte an die Sommerferien, die ich jedes Jahr bei ihr verbrachte. An die Tage, die ich auf ihrer Fensterbank verbrachte, völlig ins Spiel versunken, oder in das Lesen.
Ich schloss die Augen und dann konnte ich erneut so deutlich sehen, was mir schon im Traum wiederbegegnet war: der Eintritt durch die Haustür, der Geruch nach Äpfeln und eingekochten Johannisbeeren. Die Tür linker Hand, durch die hindurch man das kleine Wohnzimmer betrat. Der Sessel neben der Tür, in dem sie immer saß, ihr Lieblingsplatz vor dem kleinen Nähtischchen. Da, wo sie immer saß in ihrer dicken blauen Strickjacke mit den Hirschhornknöpfen.. Wo sie strickte oder Löcher flickte, wo sie las oder mir einen Apfel schälte und kleinschnitt, wo sie einen Zeichenblock zur Hand nahm, um mir zu zeigen, wie das geht mit dem Malen und worauf man achten muss..
Der Geruch nach Waschlauge in der Küche, wo sie ihre Wäsche kochte und im Zuber auf dem Brett schrubbte, um sie im Hof auf der Leine aufzuhängen..
Es gibt so vieles, an das ich mich erinnere... An ihren Küchenschrank, an dem ich immer alle Türen öffnen und hineinschauen durfte. An das Plumpsklo im Hof, vor dem es mir immer gruselte, weil man immer mindestens einer Spinne begegnete.. Eine von diesen großen schwarzen, die viel zu schnell flitzen können..
Ihr ganzes Leben lang führte sie ein einfaches, bescheidenes Leben, in dem nur eines für sie zählte: ihre drei Kinder großziehen zu können, dass sie genug zu essen hatte für ihre Kinder, dass sie im Winter nicht erfroren und immer Schuhe an den Füßen hatten. Als ihre Kinder erwachsen geworden waren, zählten für sie die Enkelkinder - und ich glaube.. vor allem zählte ich für sie.. Weil ich ein Mädchen war.. Weil ich ihr Mädchen war..
Erinnerungen an sie reichen unfassbar weit zurück, dass ich zuweilen unsicher wurde, ob das wirklich Erinnerungen sein konnten - die meine Mum mir aber bestätigte.. Dass sie mich auf ihrem Bett wickelte und puderte, dass sie mich in das Gitterbettchen daneben legte und ein Tuch vor die Stäbe hing, damit das einfallende Licht mich nicht vorzeitig weckte..
Wie sie mir auftrug, die Kartoffelkäfer in den Eimer abzusammeln. Dass ich auf die Bäume kletterte, um Kirschen oder Eierpflaumen zu pflücken. Dass wir auf der Bank neben dem Haus in der Abendsonne saßen, während wir Tomatenstullen aßen und ich die Beine baumeln ließ.. Dass ich in dem Tümpel hinter dem Haus Frösche fing, in die Hand nahm und genau betrachtete und dann wieder freiließ.. Dass wir ihre Schwester im Postamt besuchten und ich mich an den Schalter hing, weil ich nicht darüber hinwegschauen konnte.. Dass wir ihren Vater und ihre Schwester zu Hause besuchten, bis zuletzt, bis dem Vater die Kraft zu leben ausging. Dass ich so oft aus ihrer Kommode ihre schwarze Perlenkette aus der Schatulle nahm und durch die Finger gleiten ließ und sie sagte dann: "Das bekommst du alles mal, wenn ich mal nicht mehr bin."

Ich war nicht da, als sie auf dem Weg aus dem Schlafzimmer in die Küche im Hausflur einen Schlaganfall erlitt und stürzte. Und sie bei dem Versuch, aufzustehen, einen zweiten Schlaganfall erlitt, erneut stürzte und sich den Oberschenkel brach. Das Los der alten Menschen.. Ein Bruch, der operiert wurde und von dem sie sich aber nicht mehr erholte.
All die Zeit ihres Lebens bewohnte sie kleine Räume ohne ein Badezimmer, ohne eine richtige Toilette. Und jetzt, wo sie es nicht mehr wahrnehmen konnte, bekamen sie diese neuen Räume mit einem richtigen Bad und einer richtigen Toilette..
"Das ist nicht mein Zuhause", sagte sie, als man sie auf ihren eigenen Wunsch hin nach Hause gebracht und in ihr Bett gelegt hatte.
"Doch", hat meine Cousine gesagt, "das ist dein Zuhause. Schau, das ist deine Frisierkommode. Das ist dein Bett. Du bist zu Hause."
"Gut", hat sie geantwortet, die Augen geschlossen und nicht wieder geöffnet, bis sie vier Tage später starb.

Bis heute lebt sie in mir weiter. Bis heute sehe ich ihre verschmitzten braunen Augen vor mir, ihr schiefes Lächeln, ihr kurzes dunkles Haar, ihre kleinen schmalen Hände; bis heute höre ich den Klang ihrer Stimme, wenn sie mit dem Opa zankte oder wenn sie mich bei meinem Kosenamen rief, den bis heute nur sie  verwendete und den ich bis heute liebe..
Bis heute wünsche ich mir, sie wäre immer noch da.
Erinnerungen sind so oft das einzige, das bleibt und das einem nicht genommen werden kann, jedoch..
Bis heute tut es mir leid, dass ich ihr nicht öfter geschrieben habe, so wie sie es sich wünschte. Gerade in jenen Zeiten, als wir kein Telefon besaßen, geschweige denn ein Handy oder E-Mails.. Und ich, inzwischen erwachsen geworden, hunderte Kilometer weit weg wohnte..
Dieser Tage ist mir bewusst geworden, dass ich nichts, absolut gar nichts von ihr besitze. Dass absolut nichts von ihr für mich übrig geblieben ist. Und dass ich bis heute... Ich bin verrückt nach dem Geruch von Äpfeln und von eingekochten Johannisbeeren. Mein halber Kleiderschrank ist voller Strickjacken in allen möglichen Farben und Formen. Dabei wünschte ich mir nur diese eine blaue mit den braunen Hirschhornknöpfen.

Man sagt, dass jemand erst stirbt, wenn er vergessen wird.
Dann, meine Oma Martl, wirst Du immer leben.

6 Kommentare:

Sanni hat gesagt…

Ich Weine...ich hatte auch eine Omi unvergessen...bei der ich aufwuchs. Sie hatte einen Sehr langen Leidensweg bis sie Gehen durfte...sie war ein guter Mensch.

Dies und Jenes hat gesagt…

Ich versteh dich, ich hab heute noch den Geschmack von den Schnitzeln, Soße und den Nudeln im Mund, vonm einer Oma ich seh meine Oma heute noch mit Ihrer Schürze, wenn sie auf dem Wochenmarkt geschäftstüchtig ihren eigenen Obst- und Gemüseanbau verkaufte auf dem Wochenmarkt, ihrem Schrebergarten, das Häuschen mit den Hasen oder den Kuchen welchen sie immer besorgte wenn sie Geburtstag hatte. Da war sie eigen niemand durfte ihr einen backen sie kaufte immer einen besonderen immer den gleichen Jahr für Jahr.
oder die andere Oma ich rieche sie heute noch wenn sie vom schwimmen kam, sie roch so frisch nach Badedas und auch die Wohnung roch immer danach ihr einziges Kosmetika ausser Arnikaceme. Beide waren grundverschieden die eine nur ein Kind und vom Ort, die andere 9 Kinder und musste nach dem Krieg flüchten....

LG
Ursula

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Sanni, als ich den Post schrieb, ging es mir wie Dir.. Ich vermisse sie immer, ich denke sehr oft an sie - aber meist behalte ich es unter der Oberfläche und nur hin und wieder bricht es auf. Ich hätte wirklich gerne etwas von ihr zurückbehalten, am allerliebsten ihre dunkelblaue Strickjacke. Wahrscheinlich habe ich deshalb heute so einen Narren an Strickjacken gefressen, grad wenn sie grob gestrickt sind..

Liebe Ursula, bei meiner Oma waren es Kartoffeln und süße Tomatensoße ;) Eine Kombination, wo sich bei allen vermutlich der Magen hebt - aber ich habe es geliebt.
Badedas... Ich kaufe mir das heute noch dann und wann, das gibt es inzwischen auch als Handseife. Für mich riecht das auch immer noch so wie früher.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Ne warte, das hieß nicht Badedas - sondern Badusan :D

Anonym hat gesagt…

Falls es hilft: Der Film müsste "The Crow" sein.
Henry

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Das hilft, Henry, Danke schön!