Sonntag, 5. Januar 2020

Eine Frage der Authentizität, sprach das Chamäleon



Heute habe ich endlich meine Freundin angerufen und ihr zum Geburtstag gratuliert. Einen Tag zu spät, wie es mir fast immer passiert - und ich bin da echt nicht stolz drauf. Gleichwohl nahm sie es - wie auch mich - wie immer mit gelassenem Humor und meinte, heute sei eh besser als gestern; gestern hätten wir eh kaum ein Zeitfenster erhascht. Schon gar nicht so eines, das uns ein so ausgedehntes Gespräch ermöglichte. Für mich ist es in der Tat etwas Besonderes, denn Telefonieren liegt mir so gar nicht. Ich bin die, die Schreiben oder maximal Sprachnachrichten bevorzugt.
Doch ich sagte mir: Wenn du schon ihren Geburtstag versemmelt hast, dann nimm wenigstens jetzt das Telefon in die Hand und sprich mit ihr.

Ein sehr entspanntes, thematisch unfassbar weit gefächertes Telefonat. Ein weit gespanntes Gespräch, wie das im allgemeinen immer so bei uns ist. "Auf einen Kaffee", darin waren wir uns einig, schaffen wir es nie. Das Beisammensein, die Gespräche, leicht und fröhlich, nachdenklich und tiefgehend, bunt gefächert, dehnen sich immer endlos. Sie ist eine der Freundinnen, die ich nur selten sehe, nur wenig lese und noch weniger höre - die aber gefühlt immer da sind. Immer bei mir sind, mit mir. Sie ist eine derjenigen wenigen, von denen ich mich "begleitet" fühle. Die ich zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen könnte - sie wäre immer da. Eine wunderbare, für mich sehr wertvolle Freundschaft.

Wir erzählten einander von Filmen, die wir zuletzt geschaut hatten, und wir beide hatten diesen Film gesehen. Ich muss gestehen, ich bin kein Fan von Lady Gaga, nie gewesen, auch ihre Musik mochte ich nicht. Die mag ich auch jetzt noch nicht. Jedoch hat dieser Film mit dem eher kitschigen Titel mir den Menschen dahinter näher gebracht.
"Zu Beginn des Films hat sie mir am besten gefallen", sagte ich; die Freundin stimmte mir zu.
"Irgendwie dachte ich ja immer, dass die Kunstfigur Gaga ihr eigentliches Ich verstecken soll. Dass sie damit versucht hat, sich vom Mainstream abzutrennen. Und was mir wirklich gut gefallen hat, was ich erst nach dem Film über sie las: Dass sie dem Film nur zugestimmt hat unter der Bedingung, dass die Musikszenen live und vor echtem Publikum gespielt werden. Aber sonst muss ich sagen... Habe ich ihr die Rolle in so manchen Szenen nicht so abgenommen.. Wie zum Beispiel, als er sie das erste Mal auf die Bühne 'zwang'. Die Überwindung dessen habe ich ihr nicht so ganz abgenommen. Ich finde, man hat ihr eher angemerkt, dass sie dieses Geschäft zu gut kennt und schon zuviel Routine darin hat."
"Tja nun", sagte die Freundin, "man wird sich wohl entscheiden müssen, was man will: entweder eine sehr gute Sängerin oder einen sehr guten Schauspieler. Beides zusammen bekommt man eher selten."
Auch eingedenk anderer Themen musste ich lachen: "Ich weiß, ich hab da irgendwie einen Flitz, was die Authentizität betrifft. Warum das so ist, weiß ich gar nicht."

Darüber habe ich auch nach unserem Telefonat noch nachgedacht. Wäre es nicht eher langweilig, wenn wir alles voneinander wüssten? Wenn im anderen zu lesen wäre wie in einem offenen Buch? Und ist es das, was Authentizität für mich ausmacht? Dass alles offen liegt?
Nein, ich denke nicht. Ich will gar nicht alles vom anderen wissen. Ich will entdecken können, immer wieder neu. Ohne mich selbst jedoch auch völlig bloßzulegen. Es gibt niemanden, der alles von mir weiß. Und ich frage mich: War denn ich selbst auch immer ehrlich dem anderen gegenüber?
"Du bist der geradlinigste Mensch, den ich kenne", hat vor vielen Jahren mal jemand zu mir gesagt - und ich empfand das als ziemlich bemerkenswert, weil gerade derjenige gewusst haben sollte, dass ich eben nicht immer geradlinig agierte. Schon gar nicht in unserer damaligen Situation.
Heute denke ich, dass genau hierin aber der Ursprung liegt: Das Leben im Verborgenen, im Versteckten, das Leben auf einer Lüge hat mir eine ganze Menge abverlangt. Die Unruhe im Kopf, die Unruhe in der Seele, die Befangenheit eines zweifelhaften Glücksgefühls, die Ungewissheit der Zukunft.. Das bin nicht ich. Das kann ich nicht. Das will ich nicht. Die Frage nach der Entscheidung muss gestellt und sie muss beantwortet werden. Nur für mich ganz allein. So wie ich sie damals auch für mich ganz allein traf und nicht für einen anderen Mann. Er konnte mich weiter begleiten oder sich zurückziehen - und er entschloss sich natürlich für den Rückzug. Ich kenne nur sehr wenige Menschen und sehr wenige Geschichten, wo Verantwortung übernommen worden war.
Jedoch damals schwor ich mir: Ich möchte niemals wieder so leben. Ich möchte niemals wieder meinem Spiegelbild begegnen und mich fragen, wer ich eigentlich bin.

So wie in den folgenden Jahren, in denen ich monatelang auf Singleseiten auf Entdeckungsreisen ging - oder mich auch wochenlang davon zurückzog. Nicht wusste, was ich glauben sollte, nicht wusste, was ich denken sollte, welches Ziel ich hatte, was ich denn eigentlich überhaupt wollte - und wie ich mich geben wollte. Wollte ich charmant sein, mit Esprit, witzig, lustig - oder wollte ich eher nachdenklich sein, im virtuellen Steinbruch nach Gold schürfen?
"Du wirkst auf mich wie jemand, der sich seine zweite Haut so zu eigen gemacht hat, dass er heute selber nicht mehr weiß, ist es meine eigene oder doch die andere? Und ist es nur eine zweite Haut oder sind da noch mehr?" schrieb mir vor vielen Jahren jemand.
Die Wahrheit ist jedoch.. Ich bin nicht nur das eine oder andere. Zwillinge-Geborene, Menschen mit zwei Gesichtern, sagt man und meint das nicht positiv. Hingegen ich empfinde es inzwischen durchaus positiv.
"Ich denke immer, ich kenne dich und kann dich berechnen. Und genau dann machst du irgendwas, wo ich denke, ich kenne dich doch nicht", hatte einst der Ex-Mann zu mir gesagt.
Der heutige Mann äußert sich manchmal ähnlich, aber der heutige Mann.. kennt mich inzwischen tatsächlich gut.
Ich möchte mein Wort geben und dazu stehen können.
Ich äußere mich nicht zu allem und auch nicht über alles und jeden - jedoch das, was ich sage, meine ich auch genau so. Und ich möchte nicht, dass man sich bei meinen Ausführungen fragen muss, ob sie denn überhaupt wahr seien.

Im Gegenzug möchte auch ich vertrauen dürfen. Ich möchte glauben können, was man mir sagt und erzählt. Und ich weiß, wie sehr schwer mir das fällt. Es ist kein so gutes Gefühl, sich selbst einzugestehen, dass man niemandem glaubt und auch niemandem traut. Aber es ist meine Tatsache.
Die Unbefangenheit von einst, die habe ich nicht mehr. Wenn ich heute meinen Ältesten betrachte, dann ist es wie ein Spiegel, in den ich schaue. Er glaubt und vertraut beinah bedingungslos, auch wenn er sehr genau darauf achtet, wem er sich öffnet und wann und wie sehr er das tut. Aus dem kleinen zutraulichen Kerl von einst ist heute ein beinah zwei Meter großer junger Mann geworden, der sich noch immer nicht vorstellen kann, dass man ihm Böses wollte. Auch dafür liebe ich ihn. Für sein Wesen, aber auch für die Erinnerung an mein eigenes Ich.
Er macht mich sanfter, er macht mich nachsichtiger, so wie er mich manchmal auch in den Wahnsinn treibt mit dem ausgeprägten Hang zur Prokrastination aus der inneren Überzeugung heraus: Wird schon alles seinen Weg gehen.

"Vielleicht sollte ich ja einfach auch aufhören, immer alles zu hinterfragen", sagte ich heute zur Freundin, die mir darin zustimmte. "Und vielleicht sollte ich mit dem Anspruch aufhören, jeder Mensch müsse authentisch sein. Wenn man mir etwas vorgaukeln möchte, kann ich es vielleicht erkennen, muss es aber nicht kommentieren."
Vermutlich sind das dann die Momente, von denen der Mann heute manchmal zu mir sagt "Manchmal schaust du mich so an, da fühle ich mich nicht so wohl. Ich fühl mich da wie durchbohrt, wie auf einem Prüfstand."
Für mich selbst kann ich ja immer noch entscheiden, ob ich Dinge glaube oder nicht - aber vielleicht lebt es sich für den anderen ja einfacher, wenn er in einer bunt schillernden Seifenblasenwelt lebt, an die er selber glauben möchte.

Nur belogen werden.. Das möchte ich immer noch nicht, und das eine vom anderen zu unterscheiden, wird damit wohl zu meiner ganz persönlichen Aufgabe ;)

1 Kommentar:

Clara Himmelhoch hat gesagt…

"Nicht belogen werden wollen" - ist bei mir viel mehr als eine "fixe Idee"
In den 80er Jahren wurde mein Ex Vater bei einer Frau im Freundeskreis. Ich habe es ihm auf den Kopf zugesagt, aber er hat bis nach der Entbindung gelogen, auch wenn ich dann 100%ige Beweise hatte. - Seit diesem Trauma lasse ich vielleicht mal was weg, aber lüge nach Möglichkeit nicht.
Oft denke ich, dass du meine Tochter sein könntest - nur nicht mit deiner Musikaffinität. Aber vielleicht liegt es auch nur an den Ohren, meinen natürlich!