Montag, 20. Januar 2020

Life is for Living, My Old Friend



Heute Morgen verließ ich das Haus, die Notebooktasche eilig um die Schulter geworfen, die Handtasche noch darüber geschlenkert, der Mantel offen so wie das Haar. So wie früher, wenn Du vor meiner Haustür standst und auf mich gewartet hast. So wie Du auch oft auf mich gewartet hast, wenn ich Dich vor Deiner Haustür eingesammelt hatte. (Bestimmt hast Du mich ganz oft verflucht, grad in den Wintermonaten, weil ich es einfach niemals pünktlich auf die Minute geschafft habe - aber gesagt hast Du mir zumindest nie etwas.)

Kaum hatte ich heute Morgen den kleinen Schwarzen gestartet, erklang schon meine Lieblingsmusik, und kaum hatte ich begonnen, mitzusingen, musste ich mit einem Mal so heftig daran denken, wie das mit Dir war: Unser Musikgeschmack teils sehr ähnlich. Ich habe immer gesungen, immer, jeden Morgen, und Du hast entweder manchmal mitgebrummt oder Dich in den Sitz gefläzt und die Saiten Deiner Luftgitarre schwingen lassen.

In Deiner Arbeit warst Du nie der Gründlichste, Du hast Dinge übersehen, die manchmal richtig Geld und vor allem Nerven gekostet haben. Trotzdem hätte ich Dich niemals hergeben mögen. Dein unfassbar trockener Mutterwitz ist einer der besten, den ich jemals kennenlernen durfte. Mit Dir gab es einfach immer Spaß. Und wenn es Ärger gab, hast Du nie etwas gesagt, Du hast es runtergeschluckt und bist zurück in Dein Büro gegangen. Ob Du Dich zu Hause ausgekotzt hast, weiß ich nicht. Meistens bist Du dann vor die Tür gegangen und hast Dein "Pfeifchen" geraucht.

Irgendwann hast Du beschlossen: Bis zur Rente arbeite ich nicht. Ich will noch was vom Leben haben - und von meinen kleinen Enkelchen. Lieber hast Du finanzielle Abstriche in Kauf genommen - aber Leben... Man lebt nur ein einziges Mal, leider Gottes.
Seither haben Du und ich uns nicht mehr wiedergesehen. Nur ab und an hörte ich, Du arbeitest jetzt auf Baustellen unserer Konkurrenz. Aushilfsweise sollte das sein, aber es wurde wohl länger als gedacht. Unser Chef hat Dir das nie verziehen, ich aber konnte Dich verstehen. Bei uns kann man nicht nur "mal ein bisschen mitmachen". Bei uns ist man hundertprozentig dabei - oder gar nicht. Dazwischen gibt es nichts - und das weiß jeder, der schon mal in unserem Unternehmen beschäftigt war. Und genau das wolltest Du eben nicht.
"Nur mal ein bisschen nebenbei", und vielleicht hatte ja die Rente auch nicht wirklich ausgereicht.

Und jetzt gibt es Dich nicht mehr. Vor vier Tagen hast Du Dich auf Deinen letzten Weg gemacht, so vollkommen überraschend und nach nur so kurzer Zeit nach der Lungenkrebsdiagnose. Ich war völlig geschockt, ich wollte es nicht glauben, und mir sind die Tränen regelrecht in die Augen gesprungen. So wie ganz unvermittelt heute Morgen, als ich zur Musik mitzusingen begann - und mir so urplötzlich bewusst wurde: "Das ist wie früher mit dir, und hey, wo bleibt der Einsatz der Luftgitarre?"

Scheiß doch auf Wimperntusche und Lidstrich.

Spiel auf da oben, mein Freund, lass die Saiten erklingen. Ich kann vor mir sehen, welches Bild das gibt.
Ich vermisse Dich, my old friend, ich vermisse Dich wirklich. Und Deinen einzigartigen Mutterwitz.

2 Kommentare:

Juna hat gesagt…

Mit den Bildern und Gedanken wird er ewig bei dir bleiben. Fühl dich umärmelt.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

:*