Samstag, 8. Februar 2020

30



"Age is just a number, Thirty" habe ich mal eine Flasche Geburtstagssekt etikettiert. Für Dich habe ich keine Flasche Sekt gekauft, denn seit Du nicht mehr feiern gehst, machst Du Dir auch nichts mehr aus Alkohol. Ach, was waren das noch Zeiten, als Du das Feiern mit Freunden für Dich entdeckt hattest. Wie oft Du morgens kilometerweit nach Hause gelaufen bist, weil zwischen eins und vier keine Bahnen fuhren, Du nicht mehr fit genug zum Feiern, aber auch nicht trunken genug für das Schlafen auf der Bank warst. Wie oft immer irgendetwas schiefging. Du irgendetwas verloren hast. Dir etwas gestohlen wurde. Du beschuldigt wurdest, eine Toilettentür eingetreten zu haben. Was eigentlich total witzig ist, wenn man Dich kennt, denn gerade Du, zwar ein Bruchpilot vor dem Herrn, wenns um die persönliche Geschicklichkeit geht, gerade Du würdest niemals mutwillig etwas zerstören, nicht mal im Suff.
"Ich wars nicht, weil ich aufm Klo nebenan schlief", hast Du mir Jahre später verschmitzt erzählt. "Aber ich weiß, wers war." Und den hast Du bis heute nicht verraten. Nur die Rechtsschutzversicherung bemüht, deren Anwalt dann ohne Verfahren die Unschuldsklausel für Dich in Anwendung bringen konnte.
Wie Du morgens in der Tür standst und meintest, Du habest Deine Jacke irgendwo verloren.
Ich musterte Dich erstaunt: "Aber die hast du doch an?"
Und Du schautest ungläubig an Dir selber rauf und runter, herrliche ein Meter vierundneunzig lang, und lächeltest unglücklich: "Dann habe ich irgendwas anderes verloren."
"Na dann komm erst mal rein. Portemonnaie da, Handy da, Schlüssel da, alles andere prüfen wir, wenn du ausgeschlafen hast."
Oder als Du heimkamst, an jenem Morgen tatsächlich ohne Handy, ohne Portemonnaie. Weil Du auf der Bank schliefst und nicht bemerktest, wer Dich da um Dein Hab & Gut erleichterte. An jenem Morgen habe ich Dich nicht ins Bett zum Rausch ausschlafen geschickt: "Erst rufst du bei deiner Bank an und sperrst deine Karte, dann kannst du von mir aus schlafen gehen."
Das werde ich nie vergessen. Wie Du auf dem Fußboden saßt, die Augen fielen Dir ständig zu, Du konntest das Gespräch kaum führen, aber vermutlich hattest Du Glück: Die Bankbeamtin sperrte Deine EC-Karte und schickte Dir Tage später einen Brief "Holen Sie Ihre Karte in der Filiale ab, beim Versuch, die zu benutzen, wurde sie sofort eingezogen."
Oder Handys.. Ach Gott, was hast Du alles an Smartphones verschlissen.. Verloren, zerbrochen, gestohlen.. Ins Meer gesprungen zum Schwimmen und vergessen, dass das Handy noch in der Badehose steckte. Aus der Bahn gestiegen und das Handy auf der Sitzbank zurückgelassen. Aus dem Bett und direkt mit der Ferse auf das Display getreten. Aus der Hand gefallen, Display gesplittert. In die Toilette gefallen. Hach ja. Im Moment besitzt Du drei Smartphones. Mit dem einen kannst Du nur Musik hören. Mit dem zweiten kannst Du nicht mehr zocken, aber Deine Flirt-Apps bedienen. Mit dem dritten könntest Du zocken und telefonieren, aber dank überaltertem, fest eingebauten Akku keinen stromlosen Moment mehr zulassen.
Also habe ich mich entschieden, unter anderem ein neues Handy für Dich zu kaufen. Das letzte, das ICH Dir kaufe, sage ich mir - und erwerbe gleichzeitig Panzerglasfolie und ein Klapp-Etui, damit Du gar nicht erst in die Versuchung kommst, das Gerät OHNE Schutz nutzen zu wollen. Jetzt ist es doppelt und dreifach gesichert - und das muss es bei Dir auch. Es sei denn, Du lässt es wieder irgendwo liegen. Dann hilft vermutlich nur noch, es Dir ans Knie zu tackern :)

Mit Dir ist immer irgendwie Action, das ist im Grunde auch nie anders gewesen. Nicht umsonst vermutlich habe ich heute beim Sortieren ein Shirt gefunden, das ich Dir einst schenkte "Ich kann nichts dafür, ich bin so." :) Ein wunderbarer, liebenswerter junger Mann, der sich nicht leicht öffnen mag, aber der alles von sich geben wird, sobald er das Gefühl hat, dass er es kann. Und darf.
Manchmal bist Du ganz still und in Dich gekehrt, manchmal schießt Du mit Äußerungen über das Ziel hinaus - und meistens hast Du einen herrlichen Humor, über den ich mich äpplig lachen könnte. Du bist ein Mensch, den man auf den zweiten Blick erkennen und entdecken muss. Du bist niemand, der sofort einen anderen für sich einnimmt - auch weil Du selber gar nicht erst auf die Idee kommen würdest, dass Du das überhaupt kannst. Bis unter Deine hohe Stirn bist Du voller Selbstzweifel, auch wenn ich seit gut einem Jahr dabei zusehen kann, wie Du Dich mehr und mehr festigst, mehr und mehr in Deine eigene Mitte kommst.
Schon als Du klein warst, sagte man von Dir, dass Du so wissbegierig und hell im Kopf seist, dass man Dir kein X für ein U vormachen könne. Du würdest sie alle durchschauen - oder so lange fragen, bis das, was Du siehst, auch in Einklang ist mit dem, was Du hörst.
Als Du lesen lerntest, warst Du nicht mehr zu bremsen. Du hast alles gelesen und buchstabiert, das Dir vor die Augen kam. Bereits in der zweiten Klasse hast Du verstehendes Lesen entwickelt, etwas, das man wohl erst in der 4. Klasse erwirbt. Wenn Du gelesen hast, hast Du abwechselnd immer auf Text und Bild geschaut, um zu prüfen, ob das, was dort abgebildet war, zum Text passte.
Sobald Du rechnen konntest, hast Du auf alle möglichen freien Flächen geschrieben, selbst auf die untersten Ränder der Tageszeitung.
3 + 5 = 8    3 - 5 = Gonieks
Das war Dein bester! DEN hab ich mir damals ausgeschnitten und an die Pinnwand gehängt. Sehr geil.

Was Du nie warst, ist eitel. Dir ist bis heute ziemlich wurst, was Du anziehst oder nicht.
Du warst 13 und Dein Bruder 7, als ich Euch die Sachen rausgelegt hatte und sagte: "Nach dem Zähneputzen anziehen und dann gehen wir raus."
Und da standst Du dann, in den Sachen Deines Bruders.
"Äh... Siehst du denn nicht, dass du da gar nicht reinpasst?" Die Jeans ging Dir bis zum Knie, der Pulli bis zum Ellenbogen - aber die Knöppe gingen zu, also wars eben Deins.
"Wieso? Konnten doch kurze Sachen sein?!"
"Im FEBRUAR?"
Heute ist das natürlich nicht mehr ganz so - aber wichtig ist es Dir immer noch nicht.
Als ich Dich die neue Jeans anprobieren ließ, verdrehtest Du die Augen und meintest: "Schade ums Geld, kannst mir dafür doch lieber Google Play Karten schenken."
"Könnte ich, ja. Mach ich aber nicht."
"Ich hab eh keinen Bock auf Feiern", sagst Du schon die ganzen Tage. Du meinst das auch wirklich ernst, auch wenn Dich dabei gar nicht die Zahl stört als vielmehr das Gefühl, dass Du Dich ein wenig vernachlässigt fühlst. Nicht von mir. Nicht vom Mann, der morgen hierher kommt für Dich.
Eigentlich hatte ich ja einen Plan, was wir machen wollten, doch aus all dem wird nun nichts - aus Mangel an Gästen. Dein Bruder ist nicht da, Freunde hast Du lange nicht gesehen und magst sie jetzt auch nicht extra anrufen. Meine Familie ist weit weg - bleiben nur Du, der Mann und ich.
"Ist ein Geburtstag wie jeder andere", winkst Du ab.
"Aber es ist ein Geburtstag", streiche ich den halben Tag um Dich herum und versuche, Dich rumzukriegen, wenigstens mit uns auszugehen. Dass Du irgendwann irgendeine Google-App immer nur "NEIN!" für Dich sagen lässt, amüsiert uns beide, ändert aber momentan noch nichts an Deiner Entscheidung. Du große knorrige Wurzel. Wenn Du nicht willst, dann willst Du nicht, schon aus Prinzip nicht und weil Du eben einmal Nein gesagt hast. Wäre ich nur immer so konsequent gewesen früher ;) Und jetzt muss ich mir noch überlegen, ob ich es morgen trotzdem noch mal versuche, Dich in die City zu locken. Oder ob ich es bei Deiner Entscheidung belasse und mir dann eben mit dem Mann einen schönen Tag mache und dann wenigstens am Abend wieder bei Dir bin, damit Du wenigstens nicht ganz alleine bist. Du bist eh schon viel zu viel alleine, und Du sagst, das liegt eben auch am Job. Du bist halbtags eingestellt und bezahlt und arbeitest aber mehr als Vollzeit und derzeit fast jeden Samstag. Außer heute. Außer heute an Deinem Geburtstag, Du wundervoller Mensch.

Ich glaube, Du musst es einfach nur wiederentdecken, dieses Leben. Für Dich wiederentdecken. Du weißt, dass es wundervoll ist, aber Du glaubst nicht, dass es auch für Dich noch ganz viel bereithält. Denn im Gegensatz zu Deinem Bruder musst Du Dir wirklich alles erkämpfen. Dir fällt einfach nichts in den Schoß, Dir wird nichts geschenkt - aber ich betrachte mit innerer Genugtuung, wie Du Dir in Deinem aktuellen Job einen Stand erarbeitest, wo der Chef Dich nach einem Jahr bittet, nicht von ihm wegzugehen. Was schön wäre, wären es nicht nur Worte. Ich betrachte mit Genugtuung, wie Kollegen, die sich anfangs sehr kritisch über Dich äußerten, weil Du eben einfach auch in kein Schema F passt (worauf Du bitte unbedingt stolz sein darfst!), einen Zugang zu Dir finden, mit Dir über alles mögliche reden. Einen Deiner größten Kritiker hast Du mit dem Fußballthema eingefangen. Fußball ist etwas, wo Dir keiner etwas vormacht. Da kennst Du Dich aus. Ich hatte Dir mal die Kicker-Zeitschrift mitgebracht, ist Jahre her. Die hast Du wirklich Zeile für Zeile gelesen. GELESEN, nicht nur überflogen. Und als Du fertig warst, hast Du von vorn begonnen zu lesen. Zeile für Zeile. Unglaublich. Das hast Du von mir nicht, definitiv. Und dank Deines fotografischen Gedächtnisses vergisst Du auch nichts davon. Jedenfalls nicht rund um Themen, die Dich interessieren und faszinieren. Alles andere.. Steuererklärungen oder so.. Arbeitsverträge.. Behördenbriefe.. Die werden nicht mal aufgemacht. Interessiert Dich alles gar nicht.
Du hast kein Onlinebanking, Du kaufst auch nicht online ein, nirgendwo und noch nie. Du hast keine Geldanlagen, allerdings hast Du auch nie so viel verdient, als dass Du überhaupt über eine Grundlage nachdenken könntest, obwohl Du es müsstest. Du hast das Ziel, unabhängig zu sein, unabhängig von uns allen, Du willst Dein Leben allein wuppen, finanziell und auch sonst. Und es arbeitet in Dir, dass Dir das immer noch nicht gelungen ist, während Dein Bruder in vielleicht einem Monat einen Schritt weiter ist.
ABER: Ich sage immer - alles hat seine Zeit. Du hast in allem immer mehr Zeit gebraucht als andere. Und noch immer bin ich der sicheren Überzeugung, dass Du Deinen Weg auch gehen wirst. Dass Du Dein Ding machen wirst - und uns alle noch mehr überraschen wirst.

Du bist genauso wie es eine Lehrerin einst formulierte: "Er ist wie ein Motor, der langsam anläuft und erstmal warm werden muss. Aber wenn er dann einmal läuft, dann läuft der und dann hält ihn auch nichts mehr auf."

Genauso ist es, genauso bist Du und genau dafür liebe ich Dich von ganzem Herzen.
Bleib Dir weiter so treu, hab noch ein bisschen mehr Vertrauen in Dich selbst und dann wirst Du es sehen: Alles fließt.
Und was immer ich dazu tun kann, werde ich auch tun - und wenn es das letzte ist, das ich tun kann. Jeder braucht jemanden, der bedingungslos an einen glaubt - und sei Dir sicher: Ich glaube ganz ehrlich an Dich.

Ein kluger Mensch hat mal gesagt:

“We all have two lives. The second one starts when we realize that we only have one.” 

Dann komm, fangen wir an  ♥️

Alles Liebe zu Deinem Geburtstag ♥️
Deine Mama


11 Kommentare:

Juna hat gesagt…

05:53 Uhr und ich heule - drück deinen Jungen und fühle du dich gedrückt. Denn auch du kannst heute feiern, deinen Jungen und dich, 30 Jahre die du für ihn da bist und in denen du so vieles ermöglicht hast. Nicht aus "das macht man so" oder "was sollen die Leute denken" sondern aus Liebe für dein Kind. Chapeau♥

Muschelmädchen hat gesagt…

Hach. Ich liebe es, deine Geburtstagstexte zu lesen. Die sind wunderschön. Danke fürs teilen. :-)

Anonym hat gesagt…

So viel Liebe!
Hoffentlich bewahren ihre Jungs diese Geburtstags-Liebesbriefe auf!
Herzlichst
Ilona

Studio Glumm hat gesagt…

Wunderbar. Besonders: "Dann habe ich etwas anderes verloren."

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Juna, ich danke Dir von Herzen. Und nein, was die anderen Leute denken oder machen, hat mich noch nie interessiert. Ich will sie nur glücklich sehen, diese beiden.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebes Muschelmädchen, Dein erster Kommentar hier bei mir - das freut mich echt :) Danke schön :)

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Ilona, der Jüngste hatte mich letztes Jahr nach dem Lesen seines Posts gefragt, ob ich sie ihm nicht mal alle ausdrucken kann. Das habe ich auch vor - bekommt er dann mal als Einband ;)

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Ja Herr Glumm, weil der Junge wirklich etwas Besonderes ist :)

Grit hat gesagt…

Hallo Helma,
da haben Sie also auch einen im Sternzeichen "Wassermann" geborenen Sohn, ich auch, nur 15 Jahre später und einen Tag eher als Ihrer. :):)
Herzlichen Glückwunsch zu diesem besonderen Geburtstag. Ich wollte nie 30 werden, deshalb haben mir meine Kollegen damals zum 29 + 1 gratuliert, klang nicht so schlimm.
Aus heutiger Sicht kann ich es nicht mehr nachvollziehen, da ich keine Probleme mit meinem Alter habe. Viele Grüße, Grit.

Gretel hat gesagt…

Ich schicke mal ganz viele Herzen rüber.
Immer wieder eine Bereicherung, diese Texte.
Liebe Grüße
von der Gretel

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Gretel, ich freu mich über Deine Zeilen!! Aber noch mehr freu ich mich zu sehen, dass Du noch da bist :) Und ich hoffe und warte immer noch, dass Du irgendwann doch weiterbloggen magst. Und dass es Dir gut geht.