Montag, 3. Februar 2020

Das Kind meiner Mama



In dem Haus, in dem der Mann und ich wohnen, ist es irgendwie Usus geworden, dass Menschen die Dinge, die sie nicht mehr wollen oder brauchen, vor das Haus stellen. "Zu verschenken" steht manchmal dran. Auf diesem Wege bin ich in der letzten Zeit zu schon einigen Büchern meiner Sammlung gekommen, vorzugsweise natürlich Krimis :) Woher ich diesen Vogel habe, weiß ich gar nicht, ich vermute, er ist vererbt. Von der Mama. Die guckt auch ganz oft bis tief in die Nacht, während der Papa nebenan schon lange schnarcht.
Überhaupt ist es so, dass ich mit den Jahren immer und noch mehr Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten mit der Mama zeige. Sehr viel mehr als ich je gedacht hätte. Eigentlich nahm ich immer an, ich sei ein typisches Papa-Kind. Laut, impulsiv, aber wenigstens mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitsempfinden. Zugleich war ich aber auch immer sehr schüchtern und zurückhaltend. Ich wurde erst lebendig, je sicherer ich mich fühlte ;) Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, ist es eigentlich bis heute nicht anders.

Wie ich auf all das komme?
Der Mann und ich sind Fan der Reihe "Lebenslinien", wir stöbern oft in der Mediathek und suchen uns ein Porträt heraus. Gestern fiel meine Wahl auf Adele Neuhauser.
Ein wundervolles Porträt einer für mich sehr schönen, intensiven Frau. Ich mag ihr Spiel, das immer so echt wirkt, ich mag ihr herrliches breites Lachen ("Boar, hat die ein Gebiss", sagte der Mann gestern.), überhaupt ihr Wesen, das unausgesprochen unfassbar viel Herzlichkeit versprüht.
Doch was mich am allermeisten berührte, waren die vielen großen und kleinen Parallelen ihres Lebens zu dem meinen. Die großen und kleinen Parallelen ihres Wesens zu meinem Wesen.
Ihr Kollege sagte von ihr, sie sei ein Mensch mit einer unfassbaren Kraft in sich, die es ihr immer wieder ermögliche, neu aufzustehen und den Kampf neu aufzunehmen, ohne Mauern um sich herum zu errichten. Eine ganz eigene Kraft aus sich selbst heraus.
"Wie du", sagt der Mann nachdenklich.
Sie hat sich von ihrem Mann getrennt, nachdem sie beruflich wesentlich erfolgreicher wurde als er und die Streitigkeiten daheim kein Ende mehr finden mochten. Sie ist gegangen, weil sie sich sagte, dass sie so ein Leben nicht wollte und nicht konnte. Dass sie Angst vor dem Alleinsein hatte, jedoch das Bleiben keine Option war. Dass sie heute in sich ruhen kann und dankbar ist für all das, was sie hat und bekommen hat.
"Wie du", sagt der Mann und fügt hinzu: "Ich wünschte, ich könnte das auch."
Ihr Kollege sagt von ihr, dass sie ein Mensch ist, der einen ganzen Raum erfüllen kann - und dass ihr das nur gar nicht so bewusst sei.
"Ich denke, du kannst das auch, und du weißt das auch nicht von dir", sagt der Mann, während er aufsteht und kurz das Zimmer verlässt und ich schaue ihm überrascht nach. Als er wiederkommt, sage ich, dass das grad aber ein sehr schönes Kompliment war. Eines der ganz seltenen (meistens schimpft er nur wegen irgendwas oder zitiert "Wenn ich nüscht sage, schmeckts!") und vielleicht darum auch eines der wertvollsten.
Adele Neuhauser skizziert auch das Verhältnis zu ihrer Mama und in vielem finde ich mich wieder. Wie ich mich als Kind fühlte. Was ich später dachte und fühlte. Was all das für mich persönlich, für meine persönliche Entwicklung bedeutete - und wie vieles ich im Umgang mit meinen eigenen Kindern wiederfand.
"Sprich dich doch auch mal aus", sagt der Mann, "vielleicht klärt das auch vieles für dich."
"Das kann ich nicht", antworte ich. "Ich würde die Last von mir nehmen und ihr um die Schultern hängen und es würde aber nichts mehr ändern. Und das Gute ist: Ich habe längst meinen Frieden mit all dem gemacht. Weil ich heute weiß: Meine Mama liebt mich und sie hat mich immer geliebt. Mir geht es längst gut mit allem und ich werde den Teufel tun, ihr etwas anzutun."

Diese Kraft in einem selbst... Ich glaube, auch das habe ich von meiner Mama mitbekommen. Vielleicht wirken wir von außen sanft, weich, im Gegenzug sind wir jedoch ziemlich hart mit uns selbst. Wir halten vieles aus, vielleicht manchmal zu lange - und machen uns Luft, wenn es für uns nicht mehr geht. Wir scheuen keine Konfrontation, aber wir können auf den geeigneten Moment warten. Wir sind diplomatisch, aber ehrlich. Wir sagen nicht alles, das wir denken, aber wenn wir etwas sagen, meinen wir es auch so. Wir kümmern uns um andere und vergessen dabei auch schon mal uns selbst - aber wir passen immer noch auf uns auf, auch wenn das manchmal nicht den Anschein haben mag. Wir wollen das Leben genießen und wenn der andere nicht mitmacht, machen wir eben allein oder suchen uns eine andere Begleitung.

Heute bin ich sehr dankbar, das Kind meiner Mama zu sein.

Danke, dass Du mir Deine Kraft mitgegeben hast, mich niemals unterkriegen zu lassen, egal, wie oft ich gestürzt bin. Dass Du mir die Kraft Deiner Hoffnung und Deiner Zuversicht mitgegeben hast, Dein positives Denken und Fühlen, das immer nach vorn gerichtet ist, auch wenn das nicht immer ganz so einfach ist. Danke dafür, dass ich mit all diesem Rüstzeug in der Lage bin, das Leben zu leben, das mir guttut und dass ich trotz zwischenzeitlicher Pausen nie aufgehört habe, in all den fünfzehn Jahren gegen den Schmerz in meinem Körper anzukämpfen. Mich nicht bekloppt machen lasse von überheblichen Ärzten, die einen gar nicht wirklich wahrnehmen. Und mit dem Cortison habe ich in der Nacht zum vergangenen Sonntag einen ersten völlig schmerzfreien Moment erlebt. Den allerersten seit fünfzehn Jahren. Mir war bewusst, dass der nicht lange anhalten würde - aber ich dachte: "Ey... du kannst jetzt nicht schlafen gehen, du kannst jetzt diesen wertvollen Moment nicht verstreichen lassen, ohne ihn zu merken." Ich habe es genossen, bis morgens halb fünf, dann war ich zu müde - aber jetzt weiß ich umso deutlicher, was das Ziel ist. Vielleicht nicht ganz schmerzfrei, aber mit einem Level, das ich gut aushalten kann. Seit Sonntag morgen ist natürlich fast alles wieder da - bis auf die Finger. Die Finger sind so deutlich besser geworden, dass ich auch meine Kaffeetasse wieder unfallfrei anheben und mit einer Hand halten kann.
Ich bin dankbar für die Fähigkeit zu lieben - und wie sagte auch Adele gestern: "Ich muss lieben, was ich tue." Danke Mama, dass Du mir all das von Dir mitgegeben hast - auch wenn es viele Jahre, viel Arbeit und Erfahrungen brauchte, bis ich das erkennen konnte. Ich sehe nicht so aus wie Du, aber ich bin wie Du - und das ist das Beste, das mir passieren konnte.



6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hallo Frau Ziegenheimer,
bislang stille Mitleserin....dieser Post....es fühlt sich an als wäre das Verhältnis von meiner Mom und mir beschrieben. Es hat mich tief berührt.
Übrigens, ich finde die beiden weblichen Personen auf dem Foto sehen sich ähnlich.
Herzlichst
Ilona

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Ilona, ja, es ist manchmal wirklich Wahnsinn, wie sehr sich Geschichten bzw. Gefühle ähneln.. So ging mir das auch mit der Adele Neuhauser.. Ich kann ihr Porträt tatsächlich nur empfehlen, es war eins der schönsten, die ich bisher gesehen habe.

Clara Himmelhoch hat gesagt…

Helma, ich kann nur hoffen, dass deine Mama mitliest, damit sie diese wunderbare Liebeserklärung bekommt.
Ich habe auch immer gedacht, dass ich zwar äußerlich zum Teil meiner Mutter ähnlich bin, aber ansonsten mehr ein Kind meines Vaters bin. Ich konnte es ja nicht überprüfen, da er schon 46 gestorben ist. - Aber im Laufe der Jahre bekam ich mit, dass ich doch sehr viele Eigenschaften auch von der mütterlichen Seite mitbekommen habe.
Und tschüss!

Grit hat gesagt…

Guten Abend Helma,
was für wundervolle, berührende Zeilen an Ihre Mama. Adele Neuhauser habe ich mal bei "Riverboot" gesehen, sehr sympatische Schauspielerin. Danke für das Zeigen des schönen Familienbildes! Ich freue mich für Sie und kann es sehr gut nachempfinden, was schmerzfrei schlafen bedeutet!
Viele Grüße, Grit.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Clara, meine Mama weiß, dass ich blogge und hat auch mal darin gelesen, aber das ist lange her und ich glaube, inzwischen liest sie längst nicht mehr. Aber es sind Zeilen, die ich in gewisser Weise in der Geburtstagskarte an sie unterbringen werde.
Wir aus dem Norden sind ja nicht sooo mit Gefühlsbekundungen, aber.. Es gibt Dinge, die müssen wirklich mal gesagt werden.

Helma Ziggenheimer hat gesagt…

Liebe Grit, grad heut Abend hab ich dem Mann geschrieben, dass ich es noch gar nicht wirklich glauben kann, wie sehr sich das Schmerzlevel seit dem Cortison reduziert hat. Sicher, es gibt Tage, da ist das Level immer noch ganz ordentlich. Es gibt aber eben auch schon ganz andere Tage - und die ersten seltenen Momente, wo ich gar keinen Schmerz mehr fühle. Die dauern nicht lange und sind auch nur wenige. Aber es gibt sie! Und für mich fühlt sich das so an: Da geht noch was! Da MUSS noch was gehen ;)
Vielen, vielen Dank für Ihre Zeilen!!